Ihre Arbeit ist gefragt als Linderung des Fachkräftemangels. Doch bei der Einstellung von Flüchtlingen, im Bild ein junger Mann aus Somalia, gibt es rechtliche Hürden. Foto: dpa-Zentralbild

Diskutieren Sie mit - Flüchtlinge werden den Fachkräftemangel lindern – so das bekannte Credo. Doch ohne rechtliche Lockerungen wird die Rechnung nicht aufgehen, warnen IHK und Handwerk in der Region. Welche Regelungen wollen sie ändern? Ein Überblick.

- Stuttgart - Kann die Wirtschaft dauerhaft von den Flüchtlingen profitieren?
Davon gehen Prognosen aus. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat drei verschiedene Szenarien durchgespielt, wie sich die Flüchtlingszuwanderung auf die Wirtschaft auswirken könnte. Selbst im pessimistischsten Szenario bringen Flüchtlinge auf lange Sicht mehr Gewinne als Kosten. Sie bedeuteten auch für die regionale Wirtschaft „große Chancen“, sagte der Präsident der Handwerkskammer Region Stuttgart am Donnerstag. Doch rechtliche Hürden erschwerten es den Betrieben derzeit, Flüchtlinge als Auszubildende oder Praktikanten einzustellen.
Was muss passieren, damit junge Flüchtlinge schnell eine Ausbildung finden?
Vertreter der IHK und Handwerkskammer setzen auf Qualifizierungspraktika, wie unter anderem Daimler sie anbietet. „Viele Menschen kommen aus Kulturkreisen, in denen anders gearbeitet wird, als hier“, sagte IHK-Präsident Georg Fichtner. Praktika seien am wirksamsten, um Flüchtlinge schnellstmöglich an die Abläufe in einem Betrieb zu gewöhnen und sie auf den Beginn einer Ausbildung vorzubereiten.
Was fordern IHK und Handwerkskammer der Region Stuttgart?
Sie wollen für Qualifizierungspraktika von Flüchtlingen eine Ausnahme vom Mindestlohn. Normalerweise muss bei Praktika, die länger als drei Monate dauern, der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde bezahlt werden.Viele Flüchtlinge seien am Anfang aber weniger belastbar als Praktikanten, die in Deutschland aufgewachsen sind, warnt Fichtner. Zudem könnten Flüchtlinge am Anfang teilweise nur zwei oder drei Stunden am Stück arbeiten – zum Beispiel, weil sie traumatisiert sind. Drei Monate seien bei weitem nicht genug Zeit, um Flüchtlinge fit zu machen für den Ausbildungsbeginn. Die Erfahrung zeige, dass dafür im Schnitt ein bis eineinhalb Jahre Praktikumszeit nötig seien, sind sich die Präsidenten von IHK und Handwerkskammer einig. IHK-Präsident Fichtner sieht Flüchtlingspraktika deshalb als „ein völlig anderes Thema als ‚normale’ Praktika“. Deshalb sei eine Ausnahme vom Mindestlohn notwendig.
Welche rechtlichen Probleme gibt es?
Solange das Asylverfahren noch läuft, ist es für Betriebe kompliziert, Flüchtlinge als Praktikanten einzustellen. Sie brauchen dafür eine Erlaubnis bei der Ausländerbehörde. Ansonsten riskierten sie Bußgelder, sagt IHK-Präsident Fichtner. Deshalb seien Firmen bei potenziellen Praktikanten mit noch offenem Asylantrag sehr zögerlich. Aber bis zur Asylentscheidung dauert es im Schnitt 5,3 Monate – hinzu kommen teilweise monatelange Wartezeiten, bis Flüchtlinge überhaupt ihren Antrag stellen können. Diese Wartezeiten seien viel zu lang. „Wir brauchen Instrumente, mit denen Flüchtlinge sehr schnell in einen betrieblichen Alltag herein kommen“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer. Dafür drängen die Wirtschaftsvertreter auf schnellere Asylverfahren.
Was ist mit Flüchtlingen, die einen Ausbildungsplatz haben?
Für sie fordern IHK und Handwerk ein garantiertes Bleiberecht bis zwei Jahre nach Abschluss der Ausbildung. Denn Betriebe stellten kaum jemanden ein, von dem nicht sicher sei, ob er überhaupt bis zum Ende der Ausbildung bleiben darf.
Was erwartet die Wirtschaft in der Region vom kommenden Jahr?
Die Herausforderung, Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, hätten die Betriebe in den nächsten Monaten erst noch vor sich, sagen Vertreter von IHK und Handwerkskammer voraus. Bis jetzt halte sich die Beschäftigung von Flüchtlingen in der Region zahlenmäßig noch sehr in Grenzen. Die Flüchtlinge, die in diesen Tagen ankommen, „werden frühestens in einem halben bis dreiviertel Jahr bei den Firmen aufschlagen“, sagte der Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart. IHK-Präsident Fichtner warnt trotz „enormer Aufbruchstimmung“ in der Wirtschaft, dass nicht alle schnell etwas finden werden. Fichtner rechnet damit, dass 2015 rund 30 000 Asylbewerber unter 25 Jahren nach Baden-Württemberg kommen. Aktuell seien aber nur 6000 Lehrstellen unbesetzt.