Homeoffice in Pandemiezeiten: für Teile der Gesellschaft ein frommer Wunsch Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Das Coronavirus trifft alle, legt aber unbarmherzig die sozialen Unterschiede offen. Gibt es die Chance für einen gesellschaftlichen Neuanfang?

Stuttgart - Bisweilen vergleicht Jeasuthan Nageswaran, 36, die Pandemie mit den zwei Seiten einer Medaille. Der Berliner Pädagoge, Diversity-Trainer und politische Bildner sagt: „Oberflächlich betrachtet trifft uns das Virus alle gleich. Es macht keine Unterschiede. Näher betrachtet hebt es die Ungleichheiten aber auf drastische Weise hervor.“ Denn das Coronavirus ist der unabänderliche Prüfstein für eine Gesellschaft, die in Teilen noch immer in Mustern verharrt, die fortschrittlichen Geistern als überkommen erscheinen müssen. „Das Virus trifft auf bestehende Macht- und Diskriminierungsverhältnisse der Migrationsgesellschaft, die Ausgrenzung und Marginalisierung bestimmter Menschengruppen erst möglich machen“, sagt Jeasuthan Nageswaran.

Alte Probleme in neuer Dimension

Die Diskussion darüber, wer die Impfstoffe als Erster bekommen soll, bildet derlei Missstände ebenso beispielhaft ab, wie Schuldzuweisungen an Menschen mit anderen Kulturen, Sitten und Gebräuchen. Dass als asiatisch wahrgenommene Studenten beispielsweise bespuckt und beschimpft wurden, hält Jeasuthan Nageswaran nicht für Zufall. Auch nicht den Umstand, dass viele Menschen mit migrantischen Wurzeln ihr Auskommen in prekären Arbeitsverhältnisse sichern müssen. Sie verloren in der Pandemie aber mit als Erste ihren Job.

Das Virus leuchtet auch die Ecken der Gesellschaft aus, in der sozial Schwächere mit den Folgen der Krise zu kämpfen haben. Nicht jeder besitzt einen Internetanschluss, ein Laptop oder verfügt über die Möglichkeit, seine beruflichen Aufgaben im Homeoffice zu erledigen. „Die Problemstellungen um strukturellen Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten gab es schon vor der Pandemie“, sagt der 36-jährige Nageswaran, „das Virus schärft aber noch einmal den Blick darauf.“

Ein selbstverständliches Miteinander

Ob die Krise den Umgang mit den gesellschaftlichen Ungleichgewichten ändert? Jeasuthan Nageswaran hegt gelinde Zweifel. Er fürchtet, dass die Ungleichheit nach Ende der Pandemie wieder so achselzuckend hingenommen wird wie die tägliche Wetterkarte. „Das Ziel müsste es sein, nach der Pandemie in der deutschen Migrationsgesellschaft etwas ganz Neues zu bauen“, sagt er, „wir brauchen eine Normalität, die gefestigt, solidarisch und gerecht ist. Eine Art von selbstverständlichem Miteinander. Aber so etwas braucht Zeit, das entsteht nicht von heute auf morgen.“

Alte Machtstrukturen aufbrechen

Er erkenne beispielsweise den Trend in vielen Unternehmen, sich künftig vielfältiger aufzustellen. „Aber nachhaltig verändern können wir die Dinge nur, wenn wir authentisch sind und konsequent danach handeln.“ Wer die alten Machtstrukturen in herkömmlich geführten Chefetagen nicht gezielt aufbreche, könne keinen gesellschaftlichen Wandel auslösen.

Jeasuthan Nageswaran rät, beharrlich auf die gesellschaftlichen Missstände hinzuweisen und kontinuierlich um Verbesserungen zu kämpfen. Nach der Devise: Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Lehre aus der Pandemie lautet: Das Coronavirus und seine Folgen haben die Ungleichheit noch verstärkt, Missstände offengelegt. Aber die Qualität einer Gesellschaft misst sich auch daran, wie sehr sie sich um Zusammenhalt bemüht. Von allen.

Jeasuthan Nageswaran sollte Anfang November im Rahmen des Diskussionsforums „Einwanderungsland Deutschland“ in der Stuttgarter Stadtbibliothek über das „Virus als Beschleuniger von Ungleichheiten“ sprechen. Sein Vortrag auf Einladung des Forums der Kulturen musste wegen der Pandemie abgesagt werden.

Die Stuttgarter Nachrichten sind Medienpartner der Veranstaltungsreihe. Geplant ist, die Veranstaltung im Frühjahr 2021 nachzuholen.