Theatermacher Jakop Ahlbom gelingt in „ Foto: Sanne Peper

Aus Australien ist Shaun Parker angereist und bereichert „Colours“ mit sehr unterhaltsamem Theater, das sich unter hohem Körpereinsatz zu Tanzszenen fügt. Jakop Ahlbom bringt aus Amsterdam eine Hommage an den Stummfilmstar Buster Keaton mit. Beide zeigen, wie man Tanz an seine Grenzen bringt.

Ehekrise mit Freibier

Sie sind die perfekten Gastgeber. Glenn und Rhonda haben sich fein gemacht für ihr Fest, er im Anzug mit weißem Hemd, sie im blauen Partykleid mit Fuchsstola. Und Shaun Parker und Lucia Mastrantone, die beiden Tänzer und Schauspieler, die ihr Stück „Blue Love“ aus Sydney mitgebracht haben, halten in der Rolle des Ehepaars Flune nicht nur Popcorn bereit für die „Colours“-Gäste, die am Freitag im Theaterhaus in die Halle T3 strömen, nein, es gibt auch Freibier!

Das Stimmungsbarometer steht also von Beginn an auf gute Laune, auch wenn der Abend im Hause Flune mit „Blue Love“ überschrieben ist und davon erzählt, wie Glenn und Rhonda ihre Ehe an die Wand fahren. Von Beginn an ist auch das klar: Das Publikum ist Teil des Sets, das bis auf eine Bar, ein tragisch zu Tode gekommenes Familienmitglied (der ausgestopfte Hund Simon) und eine kleine Sitzgruppe spartanisch ausfällt. Der Balkon mit Meerblick ist wie vieles andere nur als schwarze Aufschrift auf dem weißen Boden vorhanden.

Man kennt das: je später der Abend, umso herber die Wahrheiten. Auch in „Blue Love“ werden Schlafzimmer-Intimitäten enthüllt, dann gibt es echte Entblößungen und ein Eifersuchtsdrama, als die Rede auf Glenns Seitensprünge kommt. Auch sonst folgen die Flunes dem bewährten Muster: Liebe, Heirat, Karriere – nach außen eine Bilderbuchfamilie, im Innern wird sie nur noch durch Verpflichtungen (die Kinder!, die Raten fürs Haus!) zusammengehalten.

Was Shaun Parker und seine erste „Blue Love“-Partnerin Jo Stone angerichtet haben, ist als Tanz nicht zu verstehen. Physical Theatre nennt es Shaun Parker, Theater unter hohem Körpereinsatz. In Stuttgart kennt man es durch Tanja Liedtke, deren Stück „Twelth Floor“ am selben Ort im Theaterhaus zu sehen war. Dass Kate Champion vom DV8 Physical Theatre, eine Kompanie, für die Tanja Liedtke getanzt hat, für die Dramaturgie von „Blue Love“ verantwortlich zeichnet, erklärt den Wiedererkennungseffekt, wenn Shaun Parker und Lucia Mastrantone Sex mittels Liegestützen zum Kraftakt umformen oder wenn Glenn mit der leblosen Rhonda wie mit einer Schlenkerpuppe hantiert.

Doch erst mal ist „Blue Love“ eine lustige Party, bei der man sein Englisch testen kann. Leider zeigen die Gastgeber viel zu lange Urlaubsfilme mit sich selbst in der Hauptrolle, noch lieber hätte man die beiden intensiver auf der Bühne erlebt, denn sie sind tolle Darsteller und Sänger, die alte französische Liebesballaden zweistimmig interpretieren. Am meisten Lacher ernten Shaun Parker und Lucia Mastrantone freilich, als sie sich in ihrer Liebes-Arena zum Schluss mit Songtexten bekriegen. „I was made for loving you, baby!“, heuchelt er, sie haut ihm dafür ein „Beat it!“ um die Ohren.

Will man etwas mitnehmen aus „Blue Love“? Vielleicht das: Wer Liebe wie die Flunes als dauerhaften Zustand versteht und nicht als Prozess, an dem man arbeiten muss, der endet tatsächlich in der emotionalen Wüste (ich hab’ dir niemals einen Rosengarten versprochen!) oder unter den Stiefeln, mit denen sich Betrogene rächen. (ak)

Staunen mit Puppe

Die Illusion, mit welcher der niederländische Theatermacher Jakop Ahlbom in seiner Hommage an Buster Keaton das „Colours“-Publikum verblüfft, ist perfekt. Der Automat, den Reinier Schimmel und Yannick Greweldinger bewegen und mit dem sie zum Song „Single Girl“ Sekt und Käsewürfel teilen, ist ein Mensch. Üblicherweise wird es zur großen Kunst, wenn Puppen mit imaginären Mitteln zum Leben erweckt werden. Ahlbom (Regie und Konzept) parodiert diese Kunst ins Gegenteil. Bis zum Finale erhält Silke Hundertmark als mechanische Figur dem Publikum die Illusion, es könne sich bei ihr nicht um einen Menschen aus Fleisch und Blut handeln. Immerhin muss sich die Schauspielerin auch einer Operation am offenen Brustkorb unterziehen.

Es ist eine skurrile Poesie, mit der die Performer aus Amsterdam die Zuschauer immer wieder zu Szenenapplaus animieren. Im altmodischen Ambiente einer Bühne auf der Bühne, gestaltet von Douwe Hibma und Jakop Ahlbom, huldigt das Ensemble mit Live-Musik von Alamo Race Track dem Stummfilmstar Buster Keaton. Inspiriert von seinem Film „The Scarecrow“, übernehmen die Holländer auch Keatons Haltung, der bei seinen burlesken, slapstickartigen Stunts niemals lachte.

Das Gesicht hell, die Lippen dunkel geschminkt, tafeln Schimmel und Greweldinger in Anzügen auf absurde Weise. Der Brotkorb wird durch eine Kurbelvorrichtung an den Tisch gebracht, die Gewürze kommen per Bowdenzug zum Teller, ausziehbare Gabeln belegen Brot mit Käse. Als dann auch noch die Wasserflasche mit einer mechanischen Vorrichtung ihren Weg aus dem Kühlschrank findet, ist das Publikum hochvergnügt. Ohne Worte demonstriert das Duo: Slapstick funktioniert hier nicht als Solo.

Und dann die Frau. In schwarzem Spitzenkleidchen, roter Perücke und mit marionettenhaften Bewegungen bringt sie das Leben der Männer durcheinander. Köstlich, wie sich einer der beiden beim Toilettengang von der „Puppe“ beobachtet fühlt, wie Silke Hundertmarks Gliedmaße durch Ellbogendruck bewegt werden, wie sie durchs Fenster „entsorgt“ wird, wie alle perfekt und burlesk absolvierten akrobatischen, tänzerischen und pantomimischen Szenen wie Luftnummern wirken und doch circensische Sensationen sind.

Ahlbom choreografiert das Absurde, lässt das Trio durch Türen und mehrere Fenster verschwinden und mit Überraschungseffekt wieder auftauchen, schickt die Frau via Hechtsprung durch den aufgeklappten Deckel einer Schatulle. „Lebensraum“, als deutsche Erstaufführung zu sehen und 2012 mit dem VSCD Mime Award ausgezeichnet, lädt zum großen Staunen ein. (bj)