Bittere Niederlage für die britische Premierministerin: Theresa May muss das Parlament zum Brexit befragen. Foto:  

Das britische Parlament muss sich mehr Gehör verschaffen, kommentiert Wolfgang Molitor.

Stuttgart - Es tut gut in diesen aufgeheizten Zeiten, dass Recht Recht bleibt. Dass wilde, zum Teil verlogene Kampagnen wie die zum Brexit-Referendum in ein ruhigeres, will heißen parlamentarisches Fahrwasser zurückfinden. Dass eine Regierung sich ihren Abgeordneten stellen und eine Mehrheit organisieren muss, statt sich in einer Frage, die Gina Miller, die Klägerin im Brexit-Verfahren zu Recht und ohne falsches Pathos die „umstrittenste einer Generation“ nennt, eigenwillig wie ausufernd als letzte Instanz zu positionieren.

Großbritanniens Supreme Court hat die Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Brexit-Referendum, rechtlich ohnehin nicht bindend und lediglich von beratendem Charakter, wird in Westminister endlich mit jenem sorgenvollen Ernst diskutiert, der seinen dramatisch weitreichenden Folgen für Großbritannien und ganz Europa gerecht wird. Der Richterspruch ist zudem auch für all jene auf dem Kontinent eine Ermutigung, die sich den immer dreister werdenden Versuchen rechtspopulistischer und wahrheitswidriger Mobilisierung immer mühevoller in den Weg stellen.

Richter stellen Regierung May in Frage

Auch wenn es in dem Verfahren vollumfänglich „nur“ um die juristische Wertung und Gewichtung ging, so muss diesem Schritt jetzt doch eine politische Fortsetzung folgen. Denn die Richter haben mit der deutlichen Mehrheit von acht zu drei Stimmen eines klargestellt: Letztentscheidende Instanz in Sachen Brexit ist das Parlament, was bedeutet, dass Premierministerin Theresa May die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens nicht im Alleingang und zu ihren eigenen Konditionen aufkündigen darf.

Wichtig ist aber auch das: Die Richter stellen mit ihrem, die Regierung May unmissverständlich maßregelndem Spruch nicht das Referendum zum EU-Austritt selbst in Frage. Und nichts deutet darauf hin, dass sich im Unter- und Oberhaus über alle Parteigrenzen hinweg eine Mehrheit formieren könnte, die das Austrittsvotum der Briten (51,89 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent) trotz starker Bedenken zu ignorieren gedenkt. Das aber ist eine heikle Sache. Die Verantwortung, die die Richter an das Parlament zurückgegeben haben, ist groß. Und es wäre ein politisches Armutszeugnis, würde sich zumindest jene stattlicher Zahl von Abgeordneten, die den Brexit für falsch halten, ohne die zweifelsohne nötigen Korrekturen und demokratischen Mitgestaltungsansprüche kampflos und feige in die Büsche schlagen.

Der allerletzte Rest politischer Vernunft

Auch deshalb tritt May die Flucht nach vorn an, angeschlagen, aber handlungsfähig. Die Regierung will schon in den nächsten Tagen einen knapp gehaltenen, Diskussionen abwürgenden Gesetzesvorschlag vorlegen, um über die EU-Austrittserklärung abstimmen zu lassen. Was mit großem Zeitdruck begründet wird (schließlich will May spätestens Ende März den Austrittsartikel 50 aktivieren), ist am Ende nichts anderes als der Ruf nach einer Austrittsvollmacht. Damit aber darf May nicht durchkommen. Es gehört zur parlamentarischen Selbstachtung, May zumindest dazu zu verpflichten, am Ende der EU-Gespräche wieder an den Verhandlungstisch zurückkommen zu müssen, sollte das Ergebnis ihrer gefährlichen Schritte für einen „harten Brexit“(also auch der Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt) das Parlament nicht überzeugen.

Nur wenn das gelingt, ist der Spruch ein Sieg für die Demokratie. Die vergangenen Wochen haben gezeigt: Für viele Abgeordnete ist es wohl die letzte Chance, dem allerletzten Rest politischer Vernunft doch noch zum Erfolg zu verhelfen.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de