Individuelles Lernen an einer Gemeinschaftsschule Foto: dpa

Die Gemeinschaftsschule scheint den Ansturm auf Gymnasien und Realschulen in Baden-Württemberg zu stoppen. Diese verzeichnen in diesem Schuljahr erneut einen leichten Rückgang an Fünftklässlern. Am meisten verlieren die Hauptschulen.

Stuttgart - Vor vier Jahren hat Grün-Rot den Eltern das letzte Wort bei der Wahl der weiterführenden Schule gegeben. Die Grundschulempfehlung, die vor allem von den Deutsch- und Mathematiknoten in der vierten Klasse abhängt, gibt es zwar weiter, aber sie ist nicht mehr verbindlich. Zunächst erhöhte sich die Schülerzahl an Gymnasien und Realschule, inzwischen sinkt sie wieder. Das geht aus dem neuen Bericht hervor, den das Statistische Landesamt am Montag in Stuttgart veröffentlicht hat.

Rund 39 800 Fünftklässler haben nach den Sommerferien an ein Gymnasium gewechselt, 437 weniger als 2014. Damit sinkt die Übergangsquote zum Gymnasium von 43,9 auf 43,4 Prozent. Eine Realschule besuchen gut 31 000 Schüler (33,8 Prozent), 816 weniger als im Vorjahr (34,7 Prozent). An den Haupt-/Werkrealschulen sank die Zahl der Fünftklässler um fast 2000 auf 6600 Schüler (7,2 Prozent gegenüber 9,3 Prozent 2014). Hauptgrund dafür ist, dass viele Haupt- und Werkrealschulen keine Schüler mehr aufnehmen. Ein Teil dieser Schulen sind Gemeinschaftsschulen geworden, andere schließen, weil sie die nötige Mindestschülerzahl von 16 Schülern in der Eingangsklasse nicht mehr erreichen.

Die Gemeinschaftsschulen haben als einzige Schulart mehr Fünftklässler als im Vorjahr. Dorthin wechselten rund 12 200 Schüler (13,3 Prozent), 2724 mehr als vor einem Jahr (10,3 Prozent). Hauptgrund ist, dass sich die Zahl der Gemeinschaftsschulen von 209 auf 271 erhöht hat.

Große regionale Unterschiede

Allerdings gibt es beim Übergang in die weiterführende Schule große regionale Unterschiede. Wie seit langem wechselten in Heidelberg mit 69,5 Prozent die meisten Fünftklässler an ein Gymnasium, eine entsprechende Empfehlung hatten 68,9 Prozent. Auch in den anderen Stadtkreisen besuchen überdurchschnittlich viele Fünftklässler ein Gymnasium. In Stuttgart sind es 57,7 Prozent (54,2 Prozent mit Empfehlung), in Karlsruhe 57,1 Prozent, in Freiburg 55,3 Prozent. In ländlichen Regionen hingegen stagniert der Anteil der Fünftklässler in Gymnasien. Am wenigsten sind es im Landkreis Waldshut (28,2 Prozent), im Hohenlohekreis (29,5 Prozent) und im Neckar-Odenwald-Kreis (29,6 Prozent). Eltern dort entscheiden sich trotz Gymnasialempfehlung für Realschule oder Gemeinschaftsschule.

87,7 Prozent der jetzigen Fünftklässler an den Gymnasien haben von ihren Grundschullehrern diese Empfehlung erhalten. 11,1 Prozent haben eine Empfehlung für die Realschule, 0,6 Prozent eine für die Hauptschule/Werkrealschule. „Die Behauptung, dass die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung zu einem unkontrollierbaren Run auf die Gymnasien führen würde, wurde damit zum wiederholten Mal widerlegt“, sagte Kultusminister Andreas Stoch (SPD). Die neuen Zahlen belegten, dass der Ausbau attraktiver Alternativen für den Weg zum Abitur zu einer zahlenmäßigen Entlastung an den Gymnasien führe.

Die größte Leistungsvielfalt haben die Realschulen und die Gemeinschaftsschulen: An den Realschulen haben 55,4 Prozent der Fünftklässler eine Empfehlung für diese Schulart, 24 Prozent eine für die Haupt-/Werkrealschule und 20,6 Prozent für das Gymnasium. An den Gemeinschaftsschulen haben 62,3 Prozent eine Empfehlung für die Haupt-/Werkrealschule, 27,6 Prozent eine für die Realschule und 10,1 Prozent eine fürs Gymnasium – ein leichter Anstieg gegenüber 2014. „Diese Entwicklung zeigt, dass die Gemeinschaftsschule auch für leistungsstärkere Schüler eine attraktive Option darstellt“, so Stoch.

Neuer Streit um G 9

Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen ihrer Schüler brauchten die Lehrer an Realschulen und Gemeinschaftsschulen mehr Unterstützung, fordert Doro Moritz. Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Die Übergangszahlen zeigen, dass Gemeinschaftsschulen auf gute Akzeptanz bei den Eltern stoßen.“

Unterdessen ist neuer Streit über die Gymnasialzeit entstanden. Der Philologenverband, der viele Gymnasiallehrer vertritt, und die Arbeitsgemeinschaft gymnasialer Elternbeiräte im Regierungsbezirk Stuttgart fordern, dass die Gymnasien selbst entscheiden können, ob Schüler nach acht oder nach neun Jahren Abitur machen. Der Landeselternbeirat distanzierte sich von der Forderung. Notwendig sei eine „pädagogische Weiterentwicklung“ der Gymnasien. Der Berufsschullehrerverband hält G-9-Züge für überflüssig – Realschule und berufliche Gymnasien böten Schülern ein Jahr mehr Zeit bis zum Abitur. Kritik kommt auch von Gemeinschaftsschuleltern. „Der Philologenverband und Teile der gymnasialen Elternschaft werden nicht müde, unsere Schüler zu diskreditieren“, so die Elternbeiratsvorsitzende Petra Rietzler. Sie reagierten auf die wachsende Konkurrenz an den Gemeinschaftsschulen „mit Überheblichkeit und Nadelsticheleien“.