Charlotte Isler trägt sich ein ins Goldene Buch der Stadt. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Charlotte Isler, die 1939 mit ihrer Familie ins Exil fliehen musste und in Amerika lebt, stellt im Archiv ihrer Vaterstadt ihre Memoiren vor und trägt sich ins Goldene Buch der Stadt ein.

Charlotte Isler hätte auch den mühelosen Weg nach Stuttgart wählen können. Online von ihrem Computer aus, der in Irvington on Hudson steht, nahe New York. Wie immer, wenn sie mit ihren vielen Stuttgarter Freunden per Zoom plaudert. Aber die bald 99-Jährige hat es sich nicht nehmen lassen, auf Einladung der Stadt und begleitet von Sohn Donald, in ihre Vaterstadt zu kommen, aus der sie 1939 mit ihrer Familie ins Exil fliehen musste. Um ihre Memoiren im Stadtarchiv zu präsentieren, im Hotel Silber, für dessen Erhalt als Lern- und Gedenkort sie sich eingesetzt hat, aus ihren Leben zu berichten, vor einer Klasse in ihrer ehemaligen Schule aufzutreten, den Einladungen von OB Frank Nopper und Landtagspräsidentin Muhterem Aras zu folgen, mit dem US-Generalkonsul Norman Thatcher Scharph zu plaudern und ihren großen Freundeskreis zu treffen. Ein Mammutprogramm. Denn Stuttgart ist ihr wieder zur zweiten Heimat geworden. Der Titel ihrer Autobiografie „Stuttgart: Flucht und Wiederkehr“ besagt es.

Unbeschwerte Kindheit

Mit ihrem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt ist ihr Name eingeschrieben ins Gedächtnis der Stadt. Charlotte Isler unterschreibt schwungvoll, will aber mehr ausdrücken. „Es ist eine große Ehre für mich, nach so vielen Jahren wieder hier im Rathaus bei Herrn OB Nopper zu sein.“ Sie wurde am 24. November 1924 in Stuttgart geboren. „Die Kindheit“ erzählt sie, „war sorglos und angenehm. Ich hatte viele Freunde, meinen Eltern Manfred und Claire Nussbaum ging es finanziell gut, die Schule war kein Problem.“ Man genoss Oper und Musik, trieb Sport, die Wohnung in der Hohenstaufenstraße 17a war großzügig und komfortabel. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 veränderten sich die Lebensverhältnisse der jüdischen Familie dramatisch. Der Großvater verlor seine Fabrik für Konfektion in der Adlerstraße, der Vater damit seine Anstellung. Einschränkungen, Diskriminierung und Anfeindung wurden immer schlimmer. „Meine christlichen Freundinnen durften mich nicht mehr besuchen, was hatten wir ihnen angetan?“ Sie habe es nicht verstanden.

Mittellos nach der Flucht

Dennoch habe erst das Reichspogrom am 9. November 1938, die Verhaftung des Vaters und der Rauswurf Charlottes aus der Charlotten-Realschule, auch dem Vater klar gemacht, dass Flucht und Exil die letzte Rettung waren. Am 10. April 1939 verließ die Familie Stuttgart für immer, am 27. April kam sie in New York an. Mittellos, mit den zugebilligten 40 Reichsmark: „Ich sah immer noch keinen Grund, warum ich unser Leben in Stuttgart verlassen musste. Was hatte es damit zu tun, dass wir jüdisch waren?“ Kulturbürgermeister Fabian Mayer sagte im Stadtarchiv: „Auf Geschichten wie Ihre kommt es an, damit die Verbrechen des NS-Regimes nicht vergessen werden.“ Islers Schicksal ist auch in dem Filmprojekt Fragezeichen des Stadtjugendrings dokumentiert.

In Amerika kam die Familie getrennt bei Verwandten und Freunden unter. Die behütete Kindheit war zu Ende. Aber Charlotte schaffte alles, was sie sich vorgenommen hatte: Den glänzenden Schulabschluss, die Ausbildung zur Krankenschwester, schließlich eine Karriere als Medizinjournalistin. 1947 heiratete sie Werner Isler, einen ehemaligen Berliner, 1952 und 1955 kamen die Söhne Donald und Norman auf die Welt. Für sie hat Charlotte Isler schon 2005 ihre Erinnerungen unter dem Titel „Times past, times present“ (Vergangenheit und Gegenwart) aufgeschrieben, die in New York erschienen waren und auch ins Stuttgarter Stadtarchiv gelangten. „Würde ich jemals hierher zurückkommen?“, hatte sich die 14-jährige Charlotte beim letzten Gang durch die leere Wohnung gefragt.

Die Oma starb im KZ

Sie kam 1967 erstmals zurück, um ihren Söhnen zu zeigen, wo sie als Kind gelebt hatte. Es blieb nicht bei einem Besuch, aber dann „war Stuttgart für mich lange Jahre ein abgeschlossenes Kapitel. Ich hatte nur noch schmerzliche Erinnerungen.“ Ein Anruf am 7. März 2008 änderte alles. Irma Glaub von der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Süd hatte sie als Enkelin von Sigmunde Friedmann ausfindig gemacht, für die vor dem Haus Hohenstaufenstraße 17a ein Stolperstein verlegt werden sollte. Denn die Großmutter blieb zurück, „sie wollte nicht zur Last fallen“, und starb 1944 in Theresienstadt. „Auch die Schwester meiner Mutter mit Mann und Sohn, die in Zagreb lebten, wurden im KZ ermordet.“

Ein Geschenk

In der Beziehung von Charlotte Isler zu Stuttgart begann ein neues Kapitel. Als Mensch ohne Vorbehalt, mit großem Talent zur Freundschaft, Humor, zugewandt, neugierig und unsentimental genießt sie seither hier viele Freundschaften und gegenseitige Besuche. Man könnte fast von einem Fan-Club sprechen. „Es ist wie ein Wunder“, strahlt sie im übervollen Foyer des Hotel Silber, an dessen Erhaltung und Umwidmung zum Lern- und Gedenkort sie großen Anteil hat. „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie diese frühere Gestapozentrale als Gedenkort erhalten“, hatte sie an alle Verantwortlichen bis hin zu Ministerpräsident Mappus geschrieben. „Da sollte noch mal jemand nein sagen“, würdigte Bürgermeisterin Isabel Fezer die Briefschreiberin als „Geschenk“.

Es geht weiter

Das alles ist nachzulesen im „Schlusskapitel“, mit dem sie ihre Memoiren vervollständigt hat. Mit Rupert Dörflinger besorgte sie die Übersetzung ins Deutsche, Katharina Ernst hat das Buch als Leiterin des Stadtarchivs herausgegeben. Allein ihr Stuttgart-Besuch würde weitere Seiten füllen. Es könnte sein, dass sie wieder einen deutlichen Brief schreiben muss, damit sich, wie Harald Stingele von der Initiative erreichen will, das Lernen und Gedenken im Hotel Silber in größeren Dimensionen entfalten kann.

Buchinfo Charlotte Isler: Stuttgart: „Flucht und Wiederkehr“, Band 15 der Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Verlag Regionalkultur, 224 Seiten, 42 Abbildungen, 21,90 Euro, erhältlich im Buchhandel.