Ohne Brian Wilson wäre der Pop nicht, was er ist. Der 70-Jährige mutet sich bei der Comebacktournee der Beach Boys nicht zu viel zu, sorgt aber für eine empfindlich-schöne Momente. Foto: dpa-Zentralbild

Zwischen Gottesdienst und Strandparty: Brian Wilson und die Beach Boys in der Schleyerhalle.

Manchmal starrt er nur teilnahmslos ins Nichts, lässt die Schultern hängen, scheint in Gedanken ganz woanders zu sein. Und gerade wenn man glaubt, dieser Mann ist vielleicht doch nur Zierde, ein altes Schmuckstück, das nur noch zur Dekoration dient, fängt er an, auf dem weißen Flügel großartige Harmonien zu spielen oder mit wehmütig-brüchiger Stimme schöne Lieder zu singen. Es sind nicht die zahllosen Gute-Laune-Hits wie „Barbara Ann“ oder „Fun Fun Fun“, die die Beach Boys am Samstagabend im Programm haben, die das Konzert vor 9000 Fans zum Ereignis machen. Es ist die Anwesenheit von Brian Wilson.

Wilson ist ein wirres Popgenie und wahrscheinlich der größte Stubenhocker des Pop – ein introvertierter, lange Zeit psychisch labiler Sturkopf, der die 1970er Jahre mehr oder weniger zu Hause im Bett verbracht hat. Er hat sich nicht nur dazu überreden lassen, mit den noch lebenden Originalmitgliedern der Beach Boys eine Platte aufzunehmen („This Is Why God Made The Radio“ erschien im Juni), sondern auch mit Mike Love, Al Jardino, Bruce Johnston und David Marks, die wie er alle um die 70 sind, wieder auf Tour zu gehen. Und während Love heftigst winkend die Bühne der Schleyerhalle betreten hat, Johnston gar einen Luftsprung wagt, bevor die Beach Boys twistend mit „Do It Again“ das Konzert beginnen, schlurft Wilson mit gesenktem Kopf zum Flügel, an dem er den Rest des Abends – knapp drei Stunden und fünfzig Songs – verbringen wird.

Ganz anders Mike Love, der immer noch gerne den Partykönig mimt, der die meisten Leadvocals übernimmt, Lieder vom ewigen Sommer, der ewigen Jugend, vom sonnigen Leben in Kalifornien und natürlich vom Surfen singt, aber auch ständig Witze über das Alter der Bandmitglieder macht. Bei „Be True To Your School“ sinkt er auf die Knie und gibt dann vor, dass ihm die anderen wieder auf die Beine helfen müssen. Bei „Sail On Sailor“ animiert er den Rest der Band zu einer Art Choreografie, die verblüffende Ähnlichkeit mit Seniorengymnastik hat. Als er „Disney Girls“ ankündigt, sagt er: „Die Älteren im Publikum werden sich an das Lied erinnern. Es stammt aus dem Jahr 1872, äh, 1972.“

Mehr als fünf alte Männer nötig um den Beach-Boys-Zauber wieder aufleben zu lassen

Tatsächlich gibt es die Beach Boys schon seit 1962. Und auch den ersten Song, den sie damals aufnahmen, hat die Band am Samstagabend im Repertoire: „Surfer Girl“ – natürlich von Brian Wilson geschrieben – erweist sich auch nach fünfzig Jahren noch als ein Großwerk, für das Wilson vom sachkundigen Publikum einen Sonderapplaus spendiert bekommt, ein in Empfindlichkeit,melancholische Harmonien und betörenden Satzgesang getauchter Liebeswalzer.

Es braucht bei der Liveshow allerdings mehr als fünf alte Männer, um den Beach-Boys-Zauber wieder aufleben zu lassen. Die Backing-Band ist nicht nur das Rückgrat für die nur scheinbar leichten, mitunter komplexen, orchestral anmutenden Arrangements, sondern übernimmt meistens auch die Falsettstimmen. Und ab und zu dürfen sie auch mal ins Scheinwerferlicht: Etwa Scott Totten, der der Musical Director der Show ist, und schön schmalzig die „Ballad of ole’ Betsy“ singt – ein Liebeslied auf ein Auto.

Es gibt all die großen Stimmungshit zu hören, die stets mit Satzgesang verziert sind und bei denen sich mal ein hübsch quengelndes Orgelsolo, mal Surfgitarren- oder Rock’n’Roll-Licks einmischen – ob „I Get Around“, „California Girls“, „Help Me Rhonda“, „Little Deuce Coup“, „Surfin’ USA“ – und am Ende der Zugaben – „Barbara Ann“ und „Fun Fun Fun“. Die Beach Boys machen aber auch deutlich, dass ihre Musik nicht aus dem Nichts kam, covern Doo-Wop-Klassiker wie „Come Go With Me“ oder „Why Do Fools Fall in Love“, führen dann in „When I Grow Up (To Be A Man)“ vor, wie bei ihnen Doo-Wop und Rock’n’Roll zu einem einzigartigen Stil zusammengefunden haben. Mal geht es in Richtung Motown („Good To Me“), mal in Richtung Country-Rock, wenn Al Jardine in Lead Bellys „Cotton Fields“ seinen großen Auftritt hat. Und während die Beach Boys von ihrer neuen Platte lediglich den Titelsong spielen, der wie ein Selbstzitat klingt, ersparen sie einem leider nicht die Karibik-Hommage „Kokomo“, bei der die Band das einzige Mal unter ihrem Niveau unterhält.

Ein Glücksgefühl, wie man es im Pop nur sehr, sehr selten erleben darf

Während solcher Gute-Laune-Strandpartysongs schaut man stets ein bisschen nervös auf Brian Wilson am Flügel. Doch der lässt sich nichts anmerken – genauso wie 1976 in dem grandiosen „Saturday Night Live“-Sketch, in dem er von den Blues Brothers Dan Aykroyd und John Belushi zu Hause verhaftet wird, im Bademantel an den Strand gezerrt und aufgefordert wird, endlich surfen zu lernen. Stattdessen beschert er dem Konzert in Stuttgart immer wieder unvermutet die ergreifendsten Momente. Etwa im bekenntnishaften „I Just Wasn’t Made for These Times“, das fast unerträglich intim gerät. In „Good Vibrations“, diesem Meisterwerk, das alles auf den Kopf gestellt hat, was es vorher im Pop gab. Und in „God Only Knows“, bei dem der Rest der Band Wilson zunächst ganz allein das Rampenlicht überlässt: „God only knows what I’d be without you“, Gott allein, weiß, was ich ohne dich wäre, singt er mit von den Jahren gezeichneter Stimme, dann setzt der Rest der Beach Boys ein, ihre Stimmen überlagern sich, bescheren einem ein Glücksgefühl, wie man es im Pop nur sehr, sehr selten erleben darf.