Befürchtet einen Niveauverlust am Gymnasium: Der Vorsitzende des Philologenverbands Bernd Saur. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Die Vorschläge, die eine vom Kultusministerium eingesetzte Arbeitsgruppe zum „Gymnasium 2020“ gemacht hat, haben heftige Diskussionen ausgelöst. Ein Streitgespräch mit zwei Schulpraktikern: der Stuttgarter Schulleiterin Barbara Graf und dem Landesvorsitzenden des Philologenverbands, Bernd Saur.

Stuttgart - Frau Graf, Herr Saur, Grundschullehrer unterrichten Schüler, Gymnasiallehrer Fächer, kritisieren viele Eltern. Was ist da dran?
Graf: Die Gymnasiallehrer haben eine hohe Fachkompetenz und sind sicher die fachlich am besten ausgebildeten Lehrer. Aber einige sehen vor allem das eigene Fach und zu wenig das einzelne Kind – da gibt es weiter Optimierungsbedarf.
Saur: Mir ist das zu pauschal. Das klingt, als könne sich ein Gymnasiallehrer grundsätzlich nicht in Kinder hineindenken. Das ist eine unzutreffende Unterstellung. Tatsache ist, dass wir eine hohe fachliche Kompetenz haben – und die muss auch sein. Aber hohe Fachlichkeit und pädagogische Kompetenz schließen sich natürlich nicht aus.
Was ist die Aufgabe des Gymnasiums heute ?
Graf: Das Gymnasium hat den Anspruch des forschenden, eher theoretischen Lernens und Arbeitens, es muss die Schüler darauf vorbereiten, im Studium selbstständig arbeiten zu können. Es vermittelt eine breite, vertiefte Allgemeinbildung. Ich bin froh, dass die Landesregierung das Gymnasium nicht angetastet hat. Denn ein Wissenschafts- und Technikstandort wie Baden-Württemberg braucht hoch qualifizierten Nachwuchs.
Saur: Mir ist darüber hinaus die Kulturtradition wichtig. Gymnasien sind Kulturträger und haben die Aufgabe, unser europäisches Kulturerbe weiterzugeben – denken Sie an Orchester, Musik, Kunst, alles, was die Gymnasien zu bieten haben. Kinder können diese unabhängig vom Geldbeutel der Eltern besuchen – das ist ein wichtiger Schlüssel für sozialen Aufstieg. Wer dieses enorme kostenlose Angebot beschneiden würde, würde die Entstehung teurer Privatschulen fördern. Das können Grüne und SPD nicht wollen.
In Deutschland besuchen aber Arbeiterkinder bei gleicher Begabung viel seltener ein Gymnasium als Akademikerkinder. Wie können die Gymnasien diese Ungleichheit verringern?
Graf: Dem Problem der ungleichen Bildungschancen muss sich das gesamte Bildungswesen stellen. Mit den neuen Gemeinschaftsschulen hat die Landesregierung einen großen Schritt getan, um alle Kinder gut zu fördern. Auch war es grundsätzlich richtig, dass Grün-Rot die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft hat und die Eltern bezüglich der weiterführenden Schule das letzte Wort haben. An den Gymnasien müssen wir nun die Förderung und individualisierte Begleitung der Schüler verstärken. Ich finde den Vorschlag aus dem Arbeitspapier „Gymnasium 2020“, den Schülern Lerncoaches zur Seite zu stellen, ausgezeichnet. Viele Schüler haben kein Problem mit Mathe oder Deutsch, sondern mit dem Lernen und der Arbeitsweise am Gymnasium und brauchen jemanden, der sie begleitet. Das hilft besonders denen, die in der Familie nicht diese Hilfe haben.
Der Philologenverband ist weniger begeistert von der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung . . .
Die Grundschulempfehlung hat manchem türkischen Mädchen den Weg zum Gymnasium eröffnet, den der Vater ihm vielleicht verwehrt hätte. Wir kritisieren aber vor allem, dass wir nicht erfahren, welche Empfehlung unsere Schüler haben – angeblich aus Datenschutzgründen. Wir könnten Kinder dann leichter fördern und Eltern beraten. Ich freue mich, dass es jetzt in Klasse fünf eine Lernstandserhebung gibt.
Sie vertrauen sehr stark auf die Grundschulnoten. Ist da nicht auch die Gefahr, dass Kinder gleich in eine Schublade gesteckt werden?
Saur: Die Grundschullehrer können vier Jahre lang ihre Entwicklung begleiten und ihr Potenzial professionell beurteilen.
Graf: Wir haben inzwischen viel Erfahrung, wie wir Eltern und Kinder gut beraten können. Zudem ist der Anteil der Schüler ohne Gymnasialempfehlung wieder gesunken.
Saur: Dennoch ist die Heterogenität gestiegen – einfacher ist es nicht geworden. Nicht die Chancen von Kindern aus bildungsfernen Familien sind unterschiedlich, sondern die Nutzung der Chancen. Es wäre wünschenswert, dass sich alle Eltern der Bedeutung von Bildung bewusst sind und mit ihren Kindern zum Beispiel viel sprechen und singen – das ist doch kein Hexenwerk.
Graf: Da bin ich anderer Meinung. Die Unterschiede sind schon im Kleinkindalter sehr groß. Der Sozialstaat hat die Verpflichtung, denen, die in ihrer Familie weniger Chancen haben, die Möglichkeit zu geben, sich gut zu entwickeln.
Der Anteil der Viertklässler, die von der Grundschule zum Gymnasium wechseln, hat sich seit 1970 fast verdoppelt, in vielen Berufen reicht die mittlere Reife nicht mehr aus. Was bedeutet das für die Gymnasien?
Graf: Wir brauchen eine bessere Unterrichtsqualität und eine neue Lernkultur. Vielen Schülern fehlen passende Lernstrategien – die hat ihnen niemand gezeigt. Gut ist, dass mit den neuen Bildungsplänen das Fach Wirtschaft und Berufsorientierung kommt.
Was heißt das für die Lehrerbildung ?
Graf: Nötig ist vor allem ein Umdenken bei den Lehrern. Bei vielen geht der Unterricht zu stark vom Fach, vom Stoff aus und zu wenig vom Lernstand der Kinder. Am Ende der Stunde soll jeder das Gleiche gelernt haben. Aber wir wissen schon lange, dass das nicht funktioniert. Wir müssen schon im Studium über das Menschenbild nachdenken: Gehen wir davon aus, dass wir Schülern alles über einen Trichter einflößen müssen, oder vertrauen wir auf ihre Neugier und schaffen die passenden Lernbedingungen?
Saur: Da muss ich Ihnen aber widersprechen. Wir haben ja Programme wie Lernen lernen oder z.  B. Methodencurricula. Da hat sich vieles getan. Ich fände eine Verlängerung des Referendariats auf zwei Jahre gut. Vom einzelnen Kind auszugehen kann auch heißen, den Schnelleren Zusatzstoff zu geben und mit den Schwächeren zu wiederholen. Aber wer Abitur machen will, muss bestimmte verbindliche Standards erreichen.
Graf: Ich wundere mich schon über Ihre Position. Wir differenzieren noch viel zu wenig. Die Frage ist doch, wie wir Schülern die Sicherheit geben, dass sie ihre Ziele erreichen können. Ich finde den Vorschlag im Arbeitspapier gut, in der Oberstufe, nicht nur in Mathe Vertiefungskurse für die besonders Interessierten einzurichten und Basiskurse für die, die sich mit dem Fach immer schwergetan haben, damit auch diese einen erfolgreichen Abschluss machen können.
Saur: Da widersprechen wir uns ja gar nicht – wir überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, wieder zu einer Art Grund- und Leistungskurssystem zurückzukehren.
Und was gefällt Ihnen nicht am Papier „Gymnasium 2020“, Herr Saur? Sie haben vor einem Niveauverlust gewarnt . . .
Saur: Es wäre ein Niveauverlust, wenn Schüler aus der Realschule oder der Gemeinschaftsschule ohne zweite Fremdsprache in die Oberstufe kämen und nur drei Jahre für die zweite Fremdsprache hätten. Oder auch wenn unsere Schüler schon nach vier statt bisher fünf Jahren die zweite Sprache abwählen könnten. Aber Minister Stoch hat ja erklärt, dass er das auch nicht will.
Graf: Wer die zweite Sprache nach der neunten Klasse abwählen würde, müsste eine dritte Sprache bis zum Abitur lernen. Das ist doch kein Niveauverlust. Ich finde die meisten Gedanken dieses Papiers außerordentlich attraktiv, weil sie fließendere Übergänge ermöglichen. Durch die Verkürzung der Gymnasialzeit ist der Grundsatz „Kein Abschluss ohne Anschluss“ weitgehend außer Kraft gesetzt worden. Früher wechselten viele Realschüler nach der zehnten Klasse an allgemeinbildende Gymnasien.
Saur: Wir brauchen eine grundsätzliche Diskussion über die Oberstufe. Die Kunst bei deren Gestaltung ist es, Breite und Schwerpunktsetzungen gut auszutarieren.
Ein Dauerthema ist die Gymnasialzeit, einige Länder sind zum neunjährigen Gymnasium zurückgekehrt. Wofür plädieren Sie?
Graf: Das Papier „Gymnasium 2020“ macht gute Vorschläge. Damit wäre eine Entwicklung aller Gymnasien möglich und nicht nur der 44, die derzeit Richtung G 9 gehen. Ich hoffe, dass die Landesregierung für alle Gymnasien mehr Geld in die Hand nimmt und nicht die Unterschiede vergrößert.
Saur: Wir haben festgestellt, dass die Belastungen bei G 8 größer sind. Es fehlt den Schülern einfach ein Jahr. Es reicht nicht, Abiturdurchschnitte zu vergleichen und Fragen wie Reife, Solidität, Vertiefung und Nachhaltigkeit außen vor zu lassen. Man kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass sich dort, wo es G-9-Züge gibt, 92 Prozent der Eltern dafür entscheiden. Da muss sich eine Partei, die eine Politik des Gehörtwerdens verspricht, schon Gedanken machen, ob sie nicht am Wunsch vieler Eltern vorbeigeht. Man wird es dem Vorsitzenden des Philologenverbandes nachsehen können, wenn er seinen Traum eines Mehrwert-Gymnasiums nicht gern aufgibt. Wir hören oft, dass G 8 vor allem für Jungs ein Problem ist. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob sich unsere Gesellschaft nicht eine breitere, fundiertere, tiefere Ausbildung leisten müsste. Das heißt nicht, dass ich G 8 generell kritisiere, wir haben das nun als Norm. Aber es ist nicht auszuschließen, dass wir eines Tages feststellen, dieses eine Jahr mehr könnte schon ein Gewinn sein. Die Kinder von Herrn Stoch bekommen es übrigens auch.
Graf: Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, wir sollten an das Bildungssystem als Ganzes und die Bildung aller Schüler denken. Die Frage ist doch, ob auch Gemeinschaftsschulen die Chance haben, eine gute, nach oben reichende Heterogenität mit leistungsstarken Schülern zu erreichen. Es ist wichtig, dieser Schulart und dem Weg in Richtung Zweigliedrigkeit eine Chance zu eröffnen. Es darf keine neue Restschule entstehen, die nicht vernünftig existieren kann, weil ihr die leistungsstärkeren Schüler von Anfang an fehlen.
Saur: Tatsächlich funktioniert die Gemeinschaftsschule nicht, wenn es dort keine Gymnasiasten gibt. Wenn man aber die Durchlässigkeit des Systems betont, lässt man auch Schüler von der Gemeinschaftsschule auf das Gymnasium wechseln und schwächt somit sein eigenes System.
Sollten Gymnasien Ganztagsschulen werden?
Graf: Das muss in der nächsten Legislaturperiode dringend auf die Tagesordnung, allerdings als freiwilliges Angebot. Nötig ist eine bessere Ausstattung. Die Bedingungen an den jetzigen Ganztagsgymnasien sind viel schlechter als an Grundschulen.
Saur: Das geht nur auf freiwilliger Basis. Manche Eltern wählen die Schulen mit dem wenigsten Nachmittagsunterricht. Wo der Bedarf da ist, sollte man die Ganztagsschule aber richtig und gut machen.
Regelmäßig kommt Kritik an 16 unterschiedlichen Bildungssystemen. Ist das noch zeitgemäß?
Graf: Ich möchte am Bildungsföderalismus festhalten. In Baden-Württemberg sind wir mit dem Weg hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem unterwegs zu einem attraktiven Schulsystem. Die Länder sollten aber weiter von Berlin unterstützt werden – wie beim früheren Ganztagsschulprogramm.
Saur: Ich bin überzeugter Föderalist. Unsere Abiturienten sind die erfolgreichsten im Bund. Das Gefälle bundesweit ist ein großes Problem. Die Kultusministerkonferenz sollte dafür sorgen, dass die Niveaus künftig einigermaßen vergleichbar sind.