Von Yannis Behrakis stammen die wohl eindrucksvollsten Flüchtlingsbilder aus der Ägäis Foto: Berakis

Im Spannungsfeld von Migrationsströmen und den Klängen des Young Artist Festivals versuchen auf der griechischen Insel Samos jetzt auch bildende Künstler, Fotografen und Videofilmer eine Verarbeitung von Flucht und Vertreibung.

Samos - Wer abends die Hafenpromenade von Pythagorion entlangschlendert, dem beliebtesten, nach dem Mathematiker Pythagoras benannten Urlaubsort von Samos, dem fällt zunächst nichts auf. Die guten, vorn an der Mole gelegenen Plätze der Restaurants sind fast alle besetzt, die Stimmung ist ausgelassen, der Lärmpegel beträchtlich. Hauptsaison eben. Auf den zweiten Blick aber bemerkt man, dass an den weiter hinten gelegenen Tischen viele Plätze frei sind. Auch in den meisten Hotels gibt es, ungewöhnlich für diese Zeit, freie Betten. Um etwa die Hälfte, so schätzt man, ist die Zahl der Besucher auf Samos in diesem Jahr zurückgegangen, viele Touristen meiden die griechischen Inseln. Sie fürchten den Kontakt mit Flüchtlingen.

Die Bilder der Flüchtlingsboote, die an den Küsten der östlichen Ägäisinseln wie Samos und Lesbos strandeten, gingen um die Welt. Bis zu tausend Menschen täglich waren es im letzten Jahr allein auf Samos, zwischen 150 000 und 200 000 insgesamt, und das bei einer Bevölkerungszahl von 33 000. Die meisten Flüchtlinge sind längst wieder weg. Neue kommen kaum mehr, seitdem das Abkommen mit der Türkei in Kraft getreten ist. Kaum mehr als zehn schaffen es noch täglich, durch die Netze der türkischen Grenzpolizei zu schlüpfen.

Festival mit RSO-Soloklarinettist Sebastian Manz

In Pythagorion, wo die türkische Küste in Sichtweite ist, bemerkt man davon nichts. Im antiken Amphitheater am Stadtrand findet, finanziert von der Stiftung von Chiona Xanthopoulou-Schwarz, seit 2010 jeden Sommer das Samos Young Artists Festivalstatt, bei dem eine Woche lang junge Musiker aus verschiedenen Ländern auftreten. Von Jazz über Klassik bis Weltmusik reicht das Programm, in diesem Jahr war auch Sebastian Manz dabei, der Soloklarinettist des RSO Stuttgart, der zusammen mit seinem Begleiter Martin Klett einen Abend mit Kammermusik (süd-)amerikanischer Komponisten spielte. Unter freiem Himmel zeigt sich hier die Insel von ihrer verführerischsten Seite. Über Baumwipfel hinweg blickt man aufs mondbeschienene Meer, Fledermäuse vollführen ihre Kunststücke in der Luft, während im Hintergrund die Zikaden einen sanften Kontrapunkt zur Musik sirren. Ein Sehnsuchtsort, nicht nur für Flüchtlinge.

Wer Flüchtlinge sehen will, muss schon in die Hauptstadt Samos an der Nordküste der Insel fahren. Im dortigen Hafen hat die Uckermark festgemacht, eines der beiden Schiffe der deutschen Küstenwache, die im Rahmen des internationalen Frontex-Einsatzes in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei patrouillieren. Am Hang oberhalb der Stadt hat man ein Auffanglager eingerichtet, etwa 1300 Menschen leben hier in Containern. Die Behausungen stehen in der prallen Sonne, kein Baum, kein Schatten. Das Lager ist mit Stacheldraht umzäunt, doch das Tor ist offen, einige Männer gehen telefonierend an der angrenzenden Hauptstraße entlang. In der Stadt trifft man kaum Flüchtlinge, nur ein paar Halbwüchsige, die auf einer Bank sitzen und verstohlen den Mädchen nachschauen.

Verarbeitung der Katastrophe durch Kunst

Eigentlich, so könnte man sagen, hat sich die Situation entspannt. Auch die Touristen werden wiederkommen, vielleicht ja schon im nächsten Jahr. Wären da nicht die Tragödien, die sich vor der Insel ereignet haben und viele Bewohner nicht loslassen. Allein an einem Tag im Januar ertranken vor der Insel zehn Kinder.

Eine Möglichkeit der Auseinandersetzung ist Kunst. Ebenfalls finanziert von der Schwarz Foundation wurde Anfang August im Art Space von Pythagorion eine Ausstellung mit dem Titel „A World Not Ours“ eröffnet, die um das Thema Flüchtlinge kreist. Zehn internationale Künstler hat die Kuratorin Katharina Gregos, die bis 2016 Leiterin der Art Brussels war, dazu eingeladen, darunter auch die griechische Künstlerin Marina Gioti. Sie rekonstruiert in einem Video die Geschichte ihrer Familie und beleuchtet damit gleichzeitig die Historie der Insel, die 1923 in der „Kleinasiatischen Katastrophe“ schon einmal das Ziel von Flüchtlingen war. Eine Million Griechen, darunter auch Giotis Großeltern, wurden damals aus ihren Gebieten innerhalb der heutigen Türkei vertrieben und suchten auf den ägäischen Inseln Unterschlupf. Viele der Bewohner von Samos haben also selbst eine Flüchtlingsbiografie – und vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Ausstellung gerade hier stattfindet. Ihr Titel beruft sich auf den Film „A World Not Ours“ des dänisch-palästinensischen Filmemachers Mahdi Fleifel, der zur Eröffnung gezeigt wurde. Der Film, der 2013 den Friedenspreis der Berlinale erhielt, beschreibt den trostlosen Alltag im palästinensischen Flüchtlingslager Ain al-Hilweh im Libanon und kann als beispielhaft für das Lebensgefühl aller Entwurzelten und Heimatlosen gelten.

Die Grenze zwischen Kunst und Fotojournalismus ist fließend

Bei vielen der ausgestellten Arbeiten ist die Grenze zu Dokumentation und Fotojournalismus fließend. Zu den stärksten zählen die von Tanja Boukal. Die Wienerin hat mehrere Monate auf den griechischen Inseln und in der Türkei recherchiert und war dabei auch in Izmir und Kusadasi, wo viele Flüchtlinge mit ihren Booten ablegen. In einer Collage hat sie Fotos von deren Hinterlassenschaften verarbeitet: Babyflaschen, Taschentücher, Medikamentenpackungen. Alltagsgegenstände, wie sie jeder kennt, die aber gerade deshalb den anonymen „Flüchtlingen“ eine Identität geben. Eine andere Arbeit dokumentiert, wie sich der Markt an der türkischen Küste auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge eingestellt hat. In den Geschäften dort gibt es Schwimmwesten in allen Größen, auch für Kinder, Schlauchboote, Sonnenschutz. Was man eben so braucht für die Überfahrt. Die Dramatik der Flucht wird hier konterkariert durch die Banalität des Mechanismus von Nachfrage und Angebot.

Anonyme Menschenmassen lassen die meisten kalt, aber Einzelschicksale gehen unter die Haut. Um den Namenlosen eine Stimme zu geben, hat die Amerikanerin Sallie Latch Interviews mit Emigrierten aufgezeichnet, die in einem Raum über den Bildschirm flimmern und über Lautsprecher zu hören sind. Im selben Raum läuft eine Diashow mit Fotos von Yannis Behrakis, von dem wohl die eindrucksvollsten Aufnahmen stammen, die es von der Flüchtlingskatastrophe gibt. Selbst wenn man manche schon gesehen hat, stockt einem beim Betrachten immer wieder der Atem: ein Vater, der nach einem stundenlangen Marsch durch den Regen seine Tochter küsst, die er auf dem Arm trägt. Ein Syrer, der bei der Ankunft versucht, ein Baby im Strampelanzug über Wasser zu halten. Weit über die Ägäis hinaus blickt die Videoinstallation der US-Architektengruppe Diller Scofidio + Renfro, die in übersichtlichen Grafikanimationen die globalen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen darstellt. Griechenland erscheint so als Teil einer Krise, die längst die ganze Welt in Atem hält.