Großstadt im ländlichen Raum: Reutlingen, hier der Blick von der Achalm Foto: Eibner-Pressefoto

Reutlingen hat für die erwogene Trennung vom Landkreis nun weitere Argumente in der Hand: Ein juristisches Gutachten hält die Umwandlung zum Stadtkreis für ein Gebot der Bürgernähe. Doch was es kostet, ist weiterhin offen.

Reutlingen - Die Loslösung der Stadt Reutlingen vom Landkreis führt nach Ansicht des Stuttgarter Juraprofessors Klaus-Peter Dolde zu einer Konzentration der bisher zwischen beiden Ebenen zersplitterten Zuständigkeiten. Ein eigener Stadtkreis wäre also im Sinn einer dezentralen, nah am Kunden orientierten Verwaltung und somit bürgernah, heißt es in einem Gutachten Doldes für die Stadt.

Auch wegen des enormen Größenunterschieds hält er die „Auskreisung“ für geboten, denn die Stadt sprenge mit ihren derzeit 111 000 Einwohnern den Rahmen des Landkreises, in dem 276 000 Menschen leben. Im Kreistag andererseits sei Reutlingen mit weniger Sitzen (nämlich 37,5 Prozent) vertreten, als es seiner Einwohnerzahl (40,2 Prozent) entspreche, argumentiert Dolde.

Außerdem gibt es im Landkreis seiner Ansicht nach bisher keine gesunde Mischung von Kommunen, sondern „starke Gegensätze“. Die nächstgrößere Stadt, Metzingen, hat mehr als 90 000 Einwohner weniger als die Großstadt Reutlingen.

Grundsätzlich sieht Dolde keine rechtlichen Hindernisse, wenn die frühere Freie Reichsstadt mehr Selbstständigkeit anstrebt. Grundlage ist für ihn Artikel 74, Absatz 1, der Landesverfassung, wo es heißt: „Das Gebiet von Gemeinden und Gemeindeverbänden kann aus Gründen des öffentlichen Wohls geändert werden.“ Bestandsschutz gebe es nicht. Es spreche alles dafür, dass der Landkreis Reutlingen auch nach der Trennung leistungsfähig bleibe – eine zwingende Voraussetzungen für eine solche Operation. Mit dann etwa 165 000 Einwohnern liege der Landkreis nach seiner Größe, Struktur und Leistungsfähigkeit im oberen Feld der eher ländlich geprägten Kreise.

Oberbürgermeisterin Barbara Bosch (parteilos) hat für den von ihr angestoßenen Prozess damit weitere Argumente in der Hand: „Unsere Prognose bestätigt sich.“ Ob ihr der Gemeinderat, der wohl im Frühjahr dazu einen Grundsatzbeschluss fassen wird, folgt, ist jedoch noch völlig offen.

Zwar hat die Stadtverwaltung im März 2013 erste Gründe dafür angeführt, warum Reutlingen Stadtkreis werden müsse – unter anderem wegen erwarteter Synergien bei der Erfüllung kommunaler Aufgaben. Doch solange keine belastbaren Zahlen für die Kosten des Vorhabens vorliegen, will sich niemand festlegen.

„Wir sind momentan dabei, dies zu kalkulieren, und dabei müssen wir viele Aspekte berücksichtigen“, sagt Roland Wintzen, der das Projekt in der Stadtverwaltung leitet. Zwar kämen auf Reutlingen zusätzliche Ausgaben zu, wenn es künftig kreisfrei sei, so etwa jene des Jugendamts. Andererseits könne der Stadtkreis dann mit mehr Geld im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs rechnen.

Die Verwaltung hat aber bereits darauf hingewiesen, dass die Stadt künftig nicht alles selbst machen muss, sondern der Kreis auch weiterhin einen Teil der Aufgaben übernehmen kann, so etwa als Träger der Berufsschulen oder der Kliniken. Andererseits nehme die Stadt in vielen Fällen bereits heute Aufgaben des Kreises wahr – so etwa bei der Abfallbeseitigung.

OB Bosch hat jedoch erst jüngst wieder betont, dass die finanzielle Seite nicht das einzige Argument für eine Loslösung vom Kreis sein könne. Auch Dolde sagte bei der Vorstellung des Gutachtens, dies müsse kein K.-o.-Kriterium sein. Vielmehr solle man abwägen, ob es die Selbstverwaltung nicht wert sei, etwas mehr zu investieren.

Auch der schärfste Kritiker des Projekts, der Reutlinger Landrat Thomas Reumann, stellt die zentrale Frage des „Mehrwerts“ keinesfalls nur in finanzieller Hinsicht. Es gehe vielmehr darum, wie eine „verantwortungsvolle kommunale Strukturpolitik in der Zukunft“ in der Region aussehe. Er bezweifelt, dass die kleine Großstadt Reutlingen und ein kleiner Landkreis diese Aufgabe getrennt besser lösen können.

„Fordert das Gemeinwohl eine Veränderung?“, fragte er dieser Tage auf einer Pressekonferenz und gab als Antwort: „Ich sage Nein.“ Ein neues Gutachten der Beratungsfirma Prognos zeige vielmehr die enge Verflechtung von Stadt und Landkreis auf. Diese seien aufeinander angewiesen. Reumann, früher Finanzbürgermeister der Stadt Reutlingen, hält seinen Landkreis zwar auch nach der Trennung noch für lebensfähig, im öffentlichen Interesse sei dieser Schritt jedoch nicht.

Falls sich der Reutlinger Gemeinderat tatsächlich für den Schritt zur Selbstständigkeit entscheidet, muss die Stadt zunächst einen formellen Antrag beim Stuttgarter Innenministerium stellen. Die Landesregierung wird dann darüber beraten und, falls die Entscheidung positiv ausfällt, einen Gesetzentwurf erstellen. Über diesen muss dann abschließend der Landtag entscheiden.

Bosch rechnet damit, dass dies noch in dieser Legislaturperiode geschehen kann, also bis Frühjahr 2016. Reumann hingegen geht von langwierigen Vermögensverhandlungen zwischen Stadt und Kreis aus. Auch juristische Auseinandersetzungen seien nicht ausgeschlossen. Eine Scheidung werde also noch viele Jahre dauern.