AKW-Abschaltung stellt Konzerne vor Probleme: Brennnstäbe voll spaltbarem Material.

Stuttgart/Darmstadt - Seit März dieses Jahres stehen acht der insgesamt 17 deutschen Atomkraftwerke still. Die Schnellabschaltung ihrer Reaktoren stellt die Atomkonzerne nun vor Probleme. Denn in den Kraftwerken stecken noch fast neue Brennelemente, die vor spaltbarem Material nur so strotzen.

Jahrzehntelang war es in den deutschen Atomkraftwerken das gleiche Spiel. Wenn in den Anlagen der Uranbrennstoff auszugehen drohte, legte man das Kraftwerk für ein paar Wochen still, tauschte die verbrauchten Brennstäbe aus und setzte frische Uranstäbe dafür ein. Die abgebrannten Brennelemente kamen ein paar Jahre lang in Abklingbecken, wo sie abkühlen konnten. Nach einem halben Jahrzehnt packte man sie zu Lagerung in Transportbehälter, sogenannte Castoren.

Der von der Bundesregierung im Juni dieses Jahres abrupt beschlossene Atomausstieg hat das Prozedere durcheinandergewirbelt. Quasi über Nacht wurden im März die acht ältesten Meiler vom Netz genommen und stehen seither still. In ihrem Innern schlummert nun eine erhebliche Altlast - neue Brennstäbe mit einem extrem hohen Anteil an spaltbarem Material, deren Transport und Entsorgung bislang teilweise ungeklärt ist.

Das Problem betrifft alle deutschen Atomkonzerne - Eon, RWE, EnBW und Vattenfall. Wie aus einer Anfrage der SPD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag vom Juli dieses Jahres hervorgeht, haben alle Konzerne im Jahr 2010 neue Brennelemente in ihre Atomkraftwerke eingesetzt. Zumindest beim Essener RWE-Konzern wurden sogar deutlich mehr neue Brennstäbe ausgetauscht als nötig, offenbar um Belastungen durch die sogenannte Atombrennstoffsteuer zu umgehen. So spendierte RWE dem Kraftwerk Biblis B 92 neue Brennelemente - das entspricht fast der Hälfte der Gesamtmenge. Üblich ist der Austausch von gut einem Viertel der Brennelemente.

Kraftwerkbetreiber stehen vor Art Präzedenzfall

Und auch die EnBW bestückte ihre Kraftwerke neu, allerdings im Rahmen gängiger Routinen. Kurz vor Weihnachten 2010 wurden im Block 1 von Neckarwestheim 40 neue Brennelemente eingesetzt. Philippsburg I bekam bereits im Mai 104 neue Uranstangen. Alle drei AKW stehen seit März dieses Jahres still. Alles in allem, so schätzen Fachleute, schlummern derzeit mehrere Hundert fast unverbrannte Brennstoffpakete in den stillgelegten deutschen AKW.

Experten sehen darin ein Problem: "In neuen Brennelementen ist noch sehr viel spaltbares Material enthalten", sagt Christoph Pistner, Experte für Nukleartechnik beim Darmstädter Ökoinstitut. Beim Verladen oder bei der Lagerung in Castoren könnte es Schwierigkeiten geben. "Diese Brennstäbe können wieder kritisch werden", sagt Pistner. Da in den fast unbenutzten Brennstäben noch sehr viel spaltbares Material enthalten ist, besteht eine erhöhte Gefahr, dass die atomare Kettenreaktion in den Uranelementen wieder in Gang kommt. "Eventuell müssen bestehende Castor-Transportbehälter modifiziert und dafür dann langwierige Genehmigungsverfahren durchlaufen werden", sagt auch Stephan Jühe, Nuklearwissenschaftler an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Technisch seien diese Fragen zwar lösbar, allerdings entstünde dadurch ein zusätzlicher Aufwand. Im schlimmsten Fall könnten sich ähnliche Herausforderungen auch für die Endlagerung der Elemente ergeben.

Auch über ein anderes Thema zerbrechen sich Fachleute derzeit den Kopf: Brennstäbe, die nur kurz in Reaktoren eingebaut wurden, enthalten mehr kritische Stoffe als ihre vollständig heruntergebrannten Pendants. "In fast unverbrauchten Brennstäben ist ein besonders hoher Anteil des für den Bau von Atomwaffen geeigneten Plutoniumisotops 239 enthalten", sagt Experte Jühe. Erst im Lauf des Abbrennens werde es nach und nach von anderen Plutoniumisotopen ersetzt, die für die Waffenproduktion ungünstiger sind. Zwar sei es unwahrscheinlich, dass das Material in falsche Hände gerate, eine Sicherheitsfrage stelle sich aber trotzdem. Eine Einschätzung, die Nuklearexperte Pistner teilt.

Die Kraftwerksbetreiber stehen nun vor einer Art Präzedenzfall. Dass fast neue Brennelemente aus Reaktoren entfernt werden müssen, war bisher nämlich eine absolute Ausnahme. Allenfalls bei Beschädigungen oder Materialfehlern mussten einzelne Elemente vorzeitig aus dem Reaktorblock. "Die jetzige Problematik war früher schlicht nicht vorhanden", sagt Pistner. Darauf müssten sich die AKW-Betreiber nun neu einstellen.

Kraftwerkbetreiber sehen keine Probleme

Zur Schwachstelle im System könnten just die bisherigen Lastesel der Nuklearbranche werden - die Castoren. In ihnen werden ausgediente Brennstäbe oder wird stark strahlender Abfall befördert und aufbewahrt. Castoren mit Zulassungen zum Transport fast neuwertiger Brennstäbe, wie sie derzeit in Massen in den abgeschalteten deutschen AKW anfallen, sind zurzeit allerdings Mangelware.

Beispiel EnBW: Im Atomkraftwerk Neckarwestheim I gebe es die zur Lagerung der Brennelemente nötigen Behälter derzeit noch nicht, sagt ein Sprecher des Umweltministerium Baden-Württemberg, der Aufsichtsbehörde für den Nuklearbereich im Land. Kurz: Bei geeigneten Castoren fehlt es an Nachschub.

In der Branche ist das Problem bekannt. Derzeit würden die Kriterien für die Beförderung von Brennelementen in Castoren überarbeitet, sagt der Sprecher im Umweltministerium. Ob ein Brennelement abgebrannt oder fast neu sei, solle bei der Einlagerung in die Behälter künftig keine Rolle mehr spielen. Die gängigen Sicherheitsstandards, etwa Grenzwerte für Strahlung oder Wärmeabgabe, blieben allerdings bestehen.

Bei der zuständigen Behörde, dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), weiß man davon allerdings nichts. "Dem BfS liegen keine Anträge auf Behälterzulassung vor, bei denen ein erkennbarer Zusammenhang mit der kurzfristigen Abschaltung von Kernkraftwerken in diesem Jahr besteht", lässt das Amt mitteilen.

Die Energiekonzerne ihrerseits wiegeln ab. Bisher sehe man "keinen Handlungsbedarf" bei dem Thema, sagt ein RWE-Sprecher. Wenig abgebrannte Brennelemente verhielten sich genauso wie stark abgebrannte. Sie könnten in herkömmliche Castoren verpackt werden. Das entscheidende Kriterium sei die Wärmeabgabe im Behälter. Entsprechende Grenzwerte dürften nicht überschritten werden. Ähnlich äußert sich eine EnBW-Sprecherin. Allgemein stelle der "Nachbetrieb der Kraftwerke" keine besondere technische Herausforderung dar, heißt es.