Auf dem Schiff Foto: Literaturmuseum Marbach

Als Volkszähler machte er sich auf den Weg – ein Vorwand. Anton Tschechow wollte die Pazifik-Insel Sachalin, das größte Straflager des Zarenreichs, genau kennenlernen. Fotografien zeigen die Reise des Schriftstellers an das Ende der russischen Welt im Jahr 1890.

Als Volkszähler machte er sich auf den Weg – ein Vorwand. Anton Tschechow wollte die Pazifik-Insel Sachalin, das größte Straflager des Zarenreichs, genau kennenlernen. Fotografien zeigen die Reise des Schriftstellers an das Ende der russischen Welt im Jahr 1890.

Die Ausstellung ist eine erste Frucht der noch jungen Kooperation zwischen dem Literaturmuseum Deutschlands und jenem der Russischen Föderation. Im Oktober 2013 begegneten sich beide Museen erstmals, die Marbacher Schau zum Weltkriegsjahr 1914 war der Anlass – und seither ist der Austausch nicht abgerissen, sprechen Wissenschaftler in Marbach und Moskau miteinander über ihre Museumsarbeit und über Formen der Präsentation.

Für Ulrich Raulff, den Direktor des Marbacher Literaturarchivs, ist dies bedeutsam: als ein Zeichen dafür, dass Normalität möglich ist in einer Zeit, in der die Spannung zwischen den Nationen wieder wächst, als Zeichen dafür, dass die Literatur verbindet, eine Plattform schafft für Gespräche über Grenzen hinweg.

Die Sachalin-Sammlung des staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation umfasst mehr als 100 Bilder, die die Reise dokumentieren, die Anton Tschechow 1890 auf die Gefangeneninsel Sachalin unternahm – Postkarten und Fotografien, nicht von Tschechow selbst angefertigt, aber von ihm zusammengetragen.

50 von ihnen sind nun in Marbach zu sehen – zum ersten Mal schlechthin, auch dies ein bemerkenswerter Umstand. Die Ausstellung ist eingegliedert in die größere Marbacher Ausstellung „Reisen“, die vom Unterwegssein bekannter Autoren erzählt und deren Fotografien präsentiert. Tschechows Reise nach Sachalin nimmt in dieser Schau nun einen ganzen Raum ein: Die paarweise in schwarzen Rahmen angeordneten Aufnahmen bilden einen Kreis, in dessen Mitte die lederne Tasche steht, die der Autor in den 1890er Jahren benutzte – die Tasche, mit der er jeden Hof, jeden Haushalt, jedes Gefängnis auf Sachalin besuchte.

Hinter Tschechows Tasche bewegen sich Bilder, die Jahre später entstanden und Eindrücke von der Insel zu Beginn des 20. Jahrhunderts liefern: Die Stuttgarter Filmemacherin Anastasia Alexandrowa stellte aus dem Material früher Wochenschauen eine kleine Dokumentation zusammen.

Dimitri Bak, Direktor des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation, sprach zur Eröffnung der Ausstellung, György Dalos, Schriftsteller und Historiker aus Ungarn, wiederholte Tschechows Reise im Jahr 2000 und führte nun ein in die Welt, die der Erzähler und Dramatiker auf dieser Reise erkundete.

1893, drei Jahre nach seiner Rückkehr, veröffentlichte Tschechow sein Buch „Die Insel Sachalin“, in dem er journalistisch nüchtern über die Zustände auf der Insel berichtete. Das Buch sorgte für Aufsehen, eine Untersuchungskommission wurde nach Sachalin entsandt.

Als Tschechow sich auf den Weg zur Insel machte, geschah dies jedoch entgegen dem Abraten seines Verlegers und den Befürchtungen seiner Familie. Der 30-Jährige hatte sich als Autor etabliert, litt aber bereits unter der Tuberkulose, an der eben erst sein jüngerer Bruder Nikolai verstorben war. Tschechow durchlebte eine Schaffenskrise, Meisterwerke wie „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“ sollten erst noch entstehen, über seine Zukunft machte der Schriftsteller und Arzt sich jedoch keine Illusionen: 14 Jahre später sollte auch er der Krankheit erliegen.

Auf Sachalin, vor der Ostküste Russlands, wurde schon seit 1857 die „Katorga“ vollstreckt, nach der Todesstrafe die schwerste Strafe im zaristischen Russland: Verbannung und Zwangsarbeit. Die Fotografien der Sachalin-Sammlung ließ Tschechow von Reisebegleitern und Angestellten auf der Insel anfertigen – einige von ihnen zeigen ihn selbst als Passagier des Dampfers „Petersburg“ oder auf der Insel. Auf vielen Bildern jedoch ist das nackte Elend zu sehen: Menschen – Schwerverbrecher, Mörder –, die mit Ketten an ihre Schubkarren geschmiedet werden, die Lager, die Gefangenen mit stumpfem, hoffnungslosem Blick bei der Arbeit im Bergwerk oder im Wald.

Anton Tschechow brach am 231. April 1890 nach Sachalin auf, auf der Insel selbst verbrachte er drei Monate. Die Route, entlang derer er Russland durchquerte, ist auf einer kleinen historischen Karte eingezeichnet, die der Veröffentlichung des Marbacher Literaturarchivs zur Ausstellung beiliegt: „Ferne Spuren I: Anton Tschechows Reise nach Sachalin“ ist dieses Heft betitelt, in Anlehnung, als Erweiterung der Marbacher Reihe „Spuren“, mit der das Literaturarchiv das Wirken bekannter Autoren aufzeigt. Die Ausstellung selbst wird bis Januar 2015 in Marbach verbleiben und dann nach Badenweiler wandern, in den Kurort im Schwarzwald, in dem Anton Tschechow 1904 starb. Für das Deutsche Literaturmuseum in Marbach stellt sie einen Aufbruch dar: Am Vorabend ihrer Eröffnung, berichtete Ulrich Raulff, diskutierten die Archivare aus Deutschland und Russland schon über ihr nächstes gemeinsames Projekt.