Trauernde haben am Tatort in Orlando auf einer US-Flagge Rosen abgelegt. Foto: GETTY

Während seines Anschlags in Orlando rief Attentäter Omar Mateen von der Toilette aus die Polizei an und bekannte sich zu den Terroristen des Islamischen Staates. Radikalisiert hatte er sich offenbar selbst.

Stuttgart - Unterschiedlicher können die Ansichten über Omar Mateen nicht sein: Hasserfüllt sei er gewesen, ist sich US-Präsident Barack Obama sicher. Unauffällig sei er gewesen, sagen die, den 29jährigen für seinen Arbeitgeber, eine Sicherheitsfirma durchleuchteten. Zumal diese auch das Gelände bewacht, auf dem ein US-Geheimdienst seine Büros hat. Als gewalttätig und instabil beschreibt Mateens Ex-Frau Sitora Yusufiy, die er geschlagen haben soll. Ein unreligiöser Mensch sei der Mann gewesen, der am Sonntag in Orlando 49 Menschen erschoss und 53 verletzte. Als friedlichen Muslim charakterisiert ihn der Imam, in dessen Moschee Mateen betete.

Beschreibungen, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Beim zweiten Hinschauen aber genau den Menschen zeigen, der Terrorexperten den Angstschweiß auf die Stirn treibt: den idealen einsamen Wolf. Terroristen, die kaum auffallen, sogar beliebt sind. Frauen und Männer, die plötzlich aus der Anonymität ausbrechen, entschlossen und mit geringem Aufwand zuschlagen. Die Angst und Schrecken verbreiten. Die den Tod bringen. Wie Mateen im Orlandoer Nachtklub Pulse, der vor allem von Lesben und Schwulen besucht wird.

Konzept der einsamen Wölfe

Das Konzept der Anschlägen einsamer Wölfe entwickelten die beiden Terrornetzwerken al-Qaida und Islamischer Staat (IS). Immer wieder lieferten sie in den vergangenen Jahren in Internetportalen die Anleitungen für Angriffe wie die in Paris oder Brüssel. Selbst Blaupausen für den Bau von Bomben in „Mutters Küche“ liefern terroristische Chefideologen und ihre obersten Pioniere digital in Kinder- und Jugendzimmer. Dazu immer perfidere Tötungsideen: So veröffentlichte al-Qaida den Bauplan für ein Auto, an das lange Rasenmäherklingen geschraubt werden. Auf diese Weise sollen bei rasenden Fahrten durch Fußgängerzonen möglichst viele Menschen getötet werden.

Strategieempfehlungen, deren Verbreitung die Kommunikationsexperten der Terrorgruppen in den vergangenen Monaten noch verfeinerten. Anfang Mai schalteten sie eine Website mit dem Namen „Geheimnisse des Mudschahedin“ frei. Zielgruppe der Informationen: Junge Frauen und Männer, die am eigenen Computer das Terrorhandwerk erlernen wollen. Sie sollen in ihren Heimatländern Anschläge verüben. Die Strategen der Terrorgruppen setzen dabei besonders auf das Überraschungsmoment: Junge Menschen, die nichts mit den Terrorgruppen verbindet, die den Sicherheitsbehörden unbekannt sind und die vor allem in ihren Heimatländern nicht auffallen, weil sie Nachbarn, Lehrern und Passanten vertraut sind. „Autodiktaten des Terrors nennt sie der israelische Terrorismusexperte Michael Barak die künftigen Attentäter, die sich zwischen Pferdeposter und Fußballschuhen am eigenen Computer radikaliseren und alleine zuschlagen sollen.

Flugzeugabsturz durch Spielzeugdrohnen

Um dieses Konzept zu versinnbildlichen zeigte das Logo der Website mit den Geheimnissen des Mudschahedin den Kopf eines heulenden Wolfes, darunter das Foto eines Kalaschnikow-Sturmgewehrs. Zu den Lerninhalten gehört auch der Umbau einer Drohne, wie sie in Spielzeugläden verkauft wird. Mit dem aufgepimpten Fluggerät, so die Idee der digitalen Terrorlehrer, könnten Passagierflugzeuge in den Einflugschneisen von Flughäfen zum Absturz gebracht werden. „Angepriesen“, sagt Michael Barak, „wird ein kostengünstiger, fantasievoller Terrorismus, den für Heranwachsende ein Hauch von Abenteuer umgibt“. Am 22. Mai verschwand diese Website für die Taschengeldterroristen wieder aus der virtuellen Welt – nachdem sie tausendfach über soziale Netzwerke ihren Weg zu wissbegierigen Terrorlehrlingen fanden.

Seit September 2015, sagt Wissenschaftler Barak, „haben wir eine bedeutende Steigerung von teilweise verschlüsselten Instruktionsseiten im Netz festgestellt, die durch den ‚IS’ und al-Qaida freigeschaltet wurden. Allein im März diesen Jahres haben wir mehr als 700 neue Internetkanäle identifiziert, die wir dem ‚IS’ zuordnen“.

Wie erkennen, dass sich Schüler radikaliseren?

Botschaften, die nicht auf fruchtbaren Boden fallen sollen, wenn es nach den Chefpädagogen des Stuttgarter Regierungspräsidiums geht. Sie luden kürzlich Lehrer und Erzieher zu einer Fortbildung ein. Thema: Wie erkenne ich, dass sich meine Schüler radikaliseren?

Eine Frage, auf die Experten keine einfachen Antworten haben: Es gibt keine Kontrolllisten, auf denen Lehrer und Eltern Häkchen machen, wenn ihnen bei ihren Schülerinnen und Söhnen bestimmte Verhaltensmuster auffallen. Aufhorchen und genau hinschauen, ist Daniel Köhler sich sicher, müssten Erzieher immer dann, wenn Jugendliche „sich überraschend, plötzlich ganz anders verhalten, als sie das davor getan haben“: sich also anders kleideten, sich Kampfnamen gäben, oder Menschen ablehnten, die den Islam anders als sie selbst interpretierten. Der Religions- und Politikwissenschaftler des Kompetenzzentrums zur Koordinierung des Präventionsnetzwerks gegen (islamistischen) Extremismus in Baden-Württemberg, kurz KPEBW, hat eine lange Liste mit Indizien zusammengestellt.

Terrorgruppen buhlen um Jugendliche

Die immer noch nicht mit Sicherheit sagt, ob sich ein Jugendlicher gerade radikalisiert oder aber nur seine Pubertät auslebt. „Wenn wir eine Liste erstellen könnten, die alle Kriterien umfasst, die der IS für die Anwerbung seiner Mitglieder nutzt, dann könnten wir auch dagegen vorgehen“, räumt Köhler ein.

Zumal islamische Terrorgruppen beim Buhlen um Jugendliche nichts dem Zufall überlassen: Das System, mit dem Islamisten andere von ihrem streng konservativen Glauben überzeugen wollen, ist meistens bis ins letzte Detail durchdacht. Sie bieten, so fanden Forscher heraus, Heranwachsenden wie Erwachsenen das, wonach sie sich am meisten sehnen: „Nestwärme, Interesse und Verständnis sind wesentliche Bestandteile dessen, was die Terroranwerber vor allem dann bieten, wenn sie ein mögliches Opfer im Auge haben“, sagt der Pforzheimer Politologe Assaf Moghadam, Direktor des Fachbereichs Antiterrorstrategien an der Universität des israelischen Herzliya.

Salafisten sind die besseren Sozialarbeiter

Moghadam empfiehlt: „Eltern sollten mehr in die Zimmer ihrer Teenager schauen. Und auch nicht davor zurückschrecken, dass Computer und Internet älteren Erwachsenen eher fremd, Kinder aber selten vertraut sind.“ Vor allem Salafis, besonders konservative und radikale Muslime, sagt der Berliner Psychologe Ahmad Mansour, „Salafisten sind die besseren Sozialarbeiter“. Ideologen, die klare Antworten böten, Grenzen aufzeigten und Gemeinschaftgefühle weckten. „Eben das, was in vielen Familien heute zu kurz kommt.“

Ende Mai rief der Sprecher des IS, Abu Muhammad al-Adnani in einer Botschaft dazu auf, während des muslimischen Fastenmonats Ramadan weltweit Andersgläubige zu ermorden. Die Aufforderung fand offenbar ihren Weg bis zu Omar Mateen in Fort Pierce in Florida. Der setzte sich am Sonntag ins Auto und fuhr 192 Kilometer nach Orlando – um 49 Menschen zu töten.