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Berliner Autonome stehlen Deutschland-Flaggen – bei türkischen und libanesischen Fans.

Berlin - Im Problemkiez Neukölln hängt Berlins größte Deutschlandfahne. Jedes Mal, wenn das deutsche Team bei der WM aufläuft, versammelt sich darunter eine bunte Truppe. Gebürtige Libanesen, Türken und Ur-Berliner lassen Deutschland hochleben. Der Patriotismus der Migranten verstört die Erz-Linken.

Der Flaggenstreit vom oberen Ende der Sonnenallee hat bizarre Züge: Drei Mal waren "diese komischen Linken" schon da, erinnert sich Youssef Bassal. Sie haben es abgesehen auf das 17 mal fünf Meter große Stück Stoff in Schwarz-Rot-Gold, das von der Regenrinne des Altbaus lang herunterhängt. Das erste Mal konnten Nachbarn den ganz in Schwarz gekleideten Täter noch festhalten. "Es ist doch nur die deutsche Fahne", habe der gebrüllt, "lasst die doch abbrennen." Danach sind Unbekannte nachts noch zwei Mal ins Treppenhaus eingedrungen, kletterten über eine Leiter auf den Dachboden, kappten das gute Stück und nahmen es mit.

"Das passiert uns aber nicht noch einmal", erklärt der 38-Jährige. Tagsüber hält er Wache vor dem Handy-Zubehör-Geschäft, nachts kommt sein Cousin Ibrahim und schlägt sich mit seinen Kumpels die Nacht bei einem Glas Tee um die Ohren.

So richtig kann Youssef, der im Libanon geboren und dort im Bürgerkrieg als Kind eine tiefe Schusswunde am Arm davongetragen hat, das Ganze nicht verstehen. "Für uns bedeutet die Fahne viel, weil wir in Deutschland sind." - "Und Mensch", sagt er weiter, "da ist doch kein Hakenkreuz drauf." Dann erklärt Youssef, der mit Deutschland-Trikot, Fan-Mütze und Federboa hinter dem Ladentisch steht und mit einer stoischen Ruhe seine Telefonkarten verkauft, warum das hier sein Land ist: Man dürfe zwar die deutsche Geschichte nie vergessen. "Aber jetzt ist Deutschland ein Land, in dem jeder willkommen ist, der unter dem deutschen Gesetz lebt."

Schwarz-rot-gold goes Multikulti

Schwarz-Rot-Gold goes Multikulti. Ausgerechnet hier. Zwei Straßen weiter ist die Rütli-Schule. Dort waren die Zustände vor einigen Jahren derart unhaltbar, dass die Schulleitung öffentlich resignierte. Der Hilferuf wurde gehört - inzwischen ist "die Rütli" eine Vorzeigeschule. Wenige Straßen weiter liegt das berüchtigte Rollbergviertel, wo Gangs von jugendlichen, meist libanesischen Intensivtätern ihr Unwesen treiben. Und Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der der Integration gerne schlechte Noten erteilt, residiert auch nicht weit von hier entfernt.

Gescheiterte Integration? Die Bassal-Cousins haben ihre eigene Sicht der Dinge. Sie verteidigen die deutsche Fahne. Youssef sagt: Er sei schon immer deutscher Fan gewesen, ob zu "Schumacher-Zeiten, Völler, Matthäus, Klinsmann oder jetzt eben Özil." Dann fragt er den Reporter: "Mit mir kommen Sie doch klar, oder? - Also bin ich integriert." Schwarz-Rot-Gold, mit den nationalen Symbolen tun sich politisch eher dem linken Spektrum nahestehende Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg schwer.

In Berlin ist die autonome, erzlinke Szene stark. Ihren Aktivisten sind in diesen Tagen die vielen Fahnen, Außenspiegel-Überzieher und Girlanden in Nationalfarben ohnehin ein Graus. Dass aber auch Migranten Schwarz-Rot-Gold schwenken und dies auch noch unbefangener tun als viele Deutsche, das ist ihnen offenbar gänzlich unerträglich. Linksautonome ziehen in diesen Nächten durch Berlin und kapern so viel Schwarz-Rot-Gold, wie sie nur kriegen können. Im Netz kursieren Fotos: Wimpel, kleine Fahnen, große Fahnen, Originaltrikots - alles kommt auf einen Haufen und wird dann angezündet. Autonome mit schwarz-rot-gold-Phobie haben es schon schwer in diesen Tagen. Aber die schlimmste Provokation ist für sie die Mega-Fahne von Neukölln. Im Netz steht so etwas wie ein Steckbrief: "Hiermit setzen wir 100 Punkte Kopfgeld für die Fahne aus. Ihr müsst sie ja nicht mitnehmen, unbrauchbar machen reicht. Aber Achtung: Angeblich will Bassal einen Nachbarschafts-Fahnenschutz organisieren, nachdem sie bereits in den letzten Tagen angezündet und abgeschnitten wurde."

Jetzt hängt schon die dritte Fahne. Die Wache der Bassals funktioniert, seit Tagen ist nichts mehr passiert. Aber: Der fortgesetzte Flaggen-Klau geht ins Geld. 500 Euro kosten die 85 Quadratmeter großen Bahnen Stoff, die Ibrahim Bassal eigens bei einem Spezialgeschäft am Nollendorfplatz anfertigen lässt. Für die Flaggen haben sie alle zusammengelegt. "Im Haus wohnen zwei deutschstämmige Mieter, die haben uns auch mit 50 Euro unterstützt", so Youssef. Stolz zeigt er dem Reporter dieser Zeitung den Brief mit der Spende von Thorsten aus Stuttgart. "Für die Flagge, schöne Grüße aus dem Süden", steht auf dem Umschlag.

Die NPD hat ein Identifikationsproblem

An diesem Samstag um 16 Uhr, wenn Deutschland gegen Argentinien spielt, werden die Bassal-Cousins die Fahne wieder flattern lassen, dann reicht sie nicht nur von der Regenrinne des Gründerzeitbaus hinunter bis zum ersten Stock, sondern bis auf den Bürgersteig. "Ich hoffe, dass die Autonomen verstanden haben, was wir bezwecken", meint Youssef. Vielleicht ist es genau das, was die Linksautonomen, die sich gerne für moralisch überlegen halten, so rasend macht: Dieses Selbstbewusstsein der Migranten, durchaus auch eigenwillige Wege zu gehen. Die Weigerung, sich vereinnahmen zu lassen. "Wir sind kein Werkzeug", so Youssef weiter, "weder für die Linken noch für die Rechten." Nein, sie wollen es sich von niemandem vorschreiben lassen. "Wir lassen uns nicht sagen, dass man die Fahne nicht aufhängen darf." Und weiter: "Wir leben hier, wir haben unsere Existenz hier, auch unsere Wurzeln - schon langsam."

Um die Ecke gibt es ein gleichgeschlechtliches Bäckerkollektiv. Man selber hänge allenfalls die Fahne mit dem "Brot der Woche heraus", winkt der Verkäufer ab. Aber für die Sache der Autonomen, so der Mann weiter, hätte er überhaupt kein Verständnis. Eine politische Spitze kann er sich dann aber doch nicht verkneifen: "Richtig gut finde ich, dass die NPD ein dickes Identifikationsproblem hat, seitdem so viele Boatengs und Khediras im deutschen Team spielen."

Youssef ist sicher, dass "wir" heute die Argentinier 2:1 schlagen. Das erklärt er einem blonden Deutschen, der noch nicht weiß, was er sich wünschen soll: "Sollen die Deutschen besser 1:0 in Führung gehen, oder nach einem frühen Gegentor noch das Spiel drehen?"

Überhaupt nicht gut zu sprechen sind sie hier auf ihren Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD). Sie wissen genau: Der Genosse zieht gerne durch die Talkshows und erklärt mit markigen Worten, warum die Integration gescheitert sei. Youssef meint: "Für den Herrn Buschkowsky habe ich kein Verständnis. Hier ist ein Riesenkrawall, und der Buschkowsky lässt sich nicht einmal blicken. Integration? Von wegen."