Derrick Coleman: Runningback der Seahawks Foto: Imago

In der NFL ist geistige Flexibilität ebenso gefordert wie körperliche Robustheit – Derrick Coleman besitzt beides, und doch stellt er eine absolute Ausnahme unter den Football-Profis dar.

Seattle - Die Fans der Seattle Seahawks sind manchmal so laut wie ein Düsenjet. Sie sind die lautesten in der National Football League (NFL), mit 137,6 Dezibel halten sie den Weltrekord für die mächtigste Lärmkulisse in einem offenen Stadion. Wenn die Seahawks am Wochenende zum Play-off die New Orleans Saints empfangen (Sonntag 0.20 Uhr MEZ/Sat 1), wird es wieder ohrenbetäubend im Century-Link-Field. Nur Derrick Coleman wird lediglich ein Rauschen hören, mehr nicht. Der Runningback aus Seattle ist nahezu taub. Als er drei Jahre alt war, begann sein Gehör nachzulassen, bis die Stille ihn umhüllte. „Es war plötzlich weg“, beschreibt er seine Geschichte, „wir wissen nicht genau, welche Ursache verantwortlich war. Die Ärzte vermuten einen genetischen Defekt, denn auch bei meinen Eltern fehlen bestimmte Hörgene.“

Doch der kleine Derrick war keiner, der einfach aufgab und sich seinem Schicksal ergab; er nahm den Hörverlust als gegeben hin und erkämpfte sich einen guten Platz im Leben. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatten seine Eltern, die ihn stets dazu anhielten, „die Behinderung nicht als Ausrede zu benutze, wenn etwas nicht klappt“. Das macht ihn zu einem höchst begehrten Gast in Gehörlosenschulen. Derrick Coleman dient hier als exzellentes Vorbild. „Wenn einer sagt, dass er etwas nicht könne“, erzählt er, „dann entgegne ich: Schau her, wie ich das mache!“ Mit diesem Willen hat es der 23-Jährige bis in die beste Football-Liga der Welt gebracht, als erster gehörloser Offensivspieler. Die ebenfalls tauben Bonnie Sloane (St. Louis Cardinals/1973) und Kenny Walker (Denver Broncos/1992) spielten in der Verteidigung.

Ein Footballer, der die Ansagen und Kommandos des Quarterbacks nicht hört – nicht die beste Voraussetzung für eine Karriere in der NFL, für einen strategischen Teamsport auf höchstem Niveau. Mit einem Hörgerät als Hilfe ist das so eine Sache, denn die nehmen wie ein Mikrofon alles auf; neben den wichtigen Kommandos eben auch die Störgeräusche, die die Fans veranstalten.

Die Seahawks-Profis haben sich auf ihren gehandicapten Ballträger eingestellt. Coleman steht Spielmacher Russell Wilson im Huddle, wenn der Spielzug angesagt wird, genau gegenüber – damit er ihm von den Lippen ablesen kann. „Wenn ich es nicht verstehe, sage ich schon Bescheid“, sagt Coleman. Unmittelbar bevor der Ball ins Spiel gebracht wird (Snap Count) oder bei einer kurzfristigen Änderung des Spielzuges (Audible) funktioniert Lippenlesen nicht mehr, weil kein Sichtkontakt zum Mund des Quarterbacks besteht. Dann muss Coleman auf das reagieren, was er sieht: Er registriert die Bewegung des Balles, er muss die Aktionen der gegnerischen Defensive erahnen und entsprechend handeln. Der Gehörlose hat die Bewegungen und Eigenheiten seiner Mitspieler im Videostudium seziert – er kann die verschiedenen Situationen immer besser einschätzen. „Ich kann mich nicht oft genug wiederholen, was für ein harter Arbeiter er ist“, sagte sein Ex-Coach James Saxon, „Derrick macht nie einen Fehler zweimal.“

Lediglich einen Frühstart kreideten ihm die Referees in dieser Saison an; und manchmal hilft dem Tüchtigen auch das Glück. Beim 37:7 über die New Orleans Saints in der regulären Saison stand Coleman nach einem Pass von Quarterback Wilson auf Tight End Kellen Davis goldrichtig. Der Ball prallte von Davis’ Gesichtsgitter ab – Coleman fing den Ball und sprang die anderthalb Yards in die Endzone. Es war sein erster NFL-Touchdown. „Oft vergesse ich, dass er fast nichts hört“, staunt Sherman Smith, der Runningback-Coach der Seahawks, „ich ändere daher in Besprechungen seinetwegen nichts. Ich muss nur manchmal lauter sprechen, damit er etwas mitbekommt.“

Seine Behinderung hat Coleman eigentlich kaum als solche empfunden. „Ich habe immer Sport getrieben“, sagt er, „und ich konnte mich durchsetzen.“ Im Sommer gelang dem Neuling der Sprung in den Kader der Seahawks, ganz ohne Einräumen von Sonderrechten. „Er ist ein großartiges Beispiel für unser Mantra: keine Ausreden“, sagt Teamkollege Michael Robinson. Ein perfekter Sportsmann, trotz Handicap.