Sterbende Schwäne im Altersheim: Szene aus „Die größten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ in Zürich. Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

„Ganz große Oper“ sagt man, wenn es irgendwo recht gefühlsüberwältigend zugeht. Auch dieser von sechs großartigen Schauspielern interpretierte Züricher Abend über Liebe und Tod, Leben und Kunst ist: ganz große Oper.

Zürich - Sechs Menschen im Altersheim. Plastikstühle in Türkis, Rot, Orange, dazwischen Rollstühle, ein Krankenhausbett, stehen vor einer Wandelhalle. Verglaste Türen, Wände mit quadratischen Oberlichtern, verschrappter Boden, ein bisschen heruntergekommener Art-déco-Chic.

Vielleicht ist dies eines der unzähligen Sanatorien, in denen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schwindsüchtige Linderung suchten und die, seit Tuberkulose heilbar ist, zu einem Seniorenheim umfunktioniert wurden. Dafür spricht auch, dass die Heldin der ersten Oper an diesem Abend an Tuberkulose stirbt: Violetta aus Verdis „La Traviata“.

Jedenfalls – hier verbringen sechs Leute ihre Tage, die in den 20ern geboren sein könnten, so verhutzelt, so gebeugt sind sie. Hervorragende Arbeit der Maskenbildner in Alvis Hermanis’ „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“: Der jüngste Darsteller, Jirka Zett, ist Jahrgang 1982, die anderen warten auch noch Jahrzehnte auf ihren 100. Geburtstag. Anders als die ewig leben wollende Jugendwahngesellschaft befassen sich Hermanis’ Helden mit dem Sterben – und natürlich mit der Liebe, die in der Oper so eng mit dem Tod verbunden ist. Weil dies das ist, was zählt, in der Kunst und im Leben, liebe Leute – diese Lektion erteilt der lettische Regisseur seinem Publikum in der Schiffbaubox des Schauspiels Zürich.

Die Alten hören Vinylplatten und spielen Szenen aus „Tosca“, „La Traviata“, „Eugen Onegin“ oder „Tristan und Isolde“, mal parallel zur Musik erzählend, mal stumm die Szene nachstellend, die gerade erklingt. Krücken werden zu Dolchen, Rollstühle zu Stieren, gichtige Finger zu Revolvern. Greise verwandeln sich in tragische Helden ihrer Lieblingsopern, heißen Caravadossi, Don José, Tatjana, Isolde. Unterstützt werden sie von ihrer blond blühenden Pflegerin Frau Rita (Rita von Horváth), die ihnen superscharfe Suppe von dem neuen spanischen Koch serviert, bevor sie „Carmen“ spielen, und gleichbleibend freundlich lobt sie Gottfried Breitfuß, der ständig fragt: „Wie gut bin ich heute gestorben?“

Die Kunst ist schwer, in den schönsten Momenten manchmal gar nicht vom Leben zu trennen. Minutenlang tapert die zierliche Isabelle Menke die Wände entlang, betastet Glasscheiben, müht sich, die Türen aufzustoßen, bis sie endlich den Holztisch mit Schallplattenspieler erreicht.

Sie holt eine Platte aus einer Hülle, beschnuppert sie wie ein Blumenbukett. „La Traviata“ von Verdi. Gilt das „Bravo, bravo“ der anderen Zuhörer der Interpretin oder der Herrin über die Plattensammlung, die vielleicht selbst einmal Opernsängerin war? Auch als Milian Zerzawy der schön blauäugigen Friederike Wagner unter Tränen seine Liebe gesteht, lässt sich nicht sagen, ob da gerade Oper gespielt wird oder nicht.

Ein Abend mit Gefühl, Pathos und Witz

Alvis Hermanis bleibt da wunderbar ambivalent. Es geht nicht um Einzelschicksale. Es geht um den Sieg der Kunst über das Leben. Wenn man etwas von den Figuren erfährt, hat dies eine dramaturgische Funktion: Dass Herr Schober (Gottfried Breitfuß) zwar nicht weiß, ob seine verstorbene Frau ihn in 57 Jahren Ehe betrogen hat, er aber super Witze erzählen kann, erfährt man, damit er den betrogenen Komödianten Bajazzo aus Ruggero Leoncavallos gleichnamiger Oper nachspielen kann.

Trotz ulkiger Würgeszenen auf Krankenbetten widersteht die Inszenierung dem Klischee von pathetisch fuchtelnden Matronen, das gern zum Einsatz kommt, wenn im Theater Oper zitiert wird. Das mag daran liegen, dass der viel gelobte Theaterregisseur auch Opern inszeniert.

Angesichts der grau-faltigen Maskerade, angesichts der pastellfarbenen Joppen und Blüschen hatte man Loriot-Sketche und „Muppet-Show“ erwartet. Doch nichts davon. Selbst die zu Spott einladenden Wagner-Texte aus „Tristan und Isolde“ werden mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit rezitiert. Bei einem Ausflug ins Ballettfach schaffen die Schauspieler eine komisch-anrührende Sterbender-Schwan-Choreografie, steigen auf den Esstisch und machen mit den Fingern flirrende Bewegungen, bis sie in sich zusammensinken. Der Abend lebt von Gefühl, von Pathos und Witz. Und wenn die Musik emotional zu überwältigen droht, fordert Duell-Experte und „Tom & Jerry“-Fan Milian Zerzawy: „So, jetzt mal was Fetziges!“.

Hermanis gelingt bei aller Distanz (Jirka Zetts Alter mault, in den dem Sterben oft vorangehenden Liebesduetten sei ewig das Gleiche zu hören) eine Hommage an die Oper. An Kunst überhaupt, die vor dem banalen Alltag verteidigt wird. Hermanis lässt Isabelle Menke mitleidig auf Hilke Altefrohne blicken, weil die nie Besuch bekommt und Sex höchstens mit den Helden der Bücher hat, die sie unterm Rock versteckt. Doch es macht nichts, wenn sie keine echten Liebhaber hat, auch Menkes Greisin sitzt ja allein im Heim und wird nicht von ihren zahlreichen Kindern oder Enkeln gepflegt.

Trotz solcher Querelen und Zwiste darüber, wer heute die Traviata sein darf, sind die Greise bestens aufeinander eingespielt. Eine eingeschworene Gang. Als Frau Rita einen Moment lang den Medikamenten-Wagen unbeaufsichtigt lässt, mixen sie mit den Pillen einen Trank – für Isoldes Liebestod und womöglich für ihren eigenen. „Ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust.“

Weitere Vorstellungen: 1., 2., 6., 8., 10., 11., 14., 16., 19. April. Auskunft unter der Telefonnummer: 00 41/(0)44 / 2 58 77 77.