Verstärkte Abschreckung: F-15-Abfangjäger der US-Luftwaffe in Litauen Foto: Weißenborn

Die Balten reagieren nervös auf Russlands Großmachtpolitik auf der Krim und an ihren Grenzen. Die USA haben deshalb die Sicherung des Luftraums in der Region verstärkt. Aber Litauen hofft auf mehr.

Siauliai - Als die Sirene losheult, rennen die beiden Männer in schwarzen Trainingsanzügen die Treppen hinunter ins Erdgeschoss und streifen sich in Windeseile vor ihrem Spind ihre Ausrüstung über: den olivgrünen Fliegeroverall, die Nylon-Stiefel, den Helm. Draußen vor der Tür wartet schon ein Kleinbus mit laufendem Motor und lauter Rockmusik von AC/DC. Kaum sind die US-Jetpiloten in den Wagen gehechtet, rasen sie mit quietschenden Reifen los. Vom Alarmrotten-Gebäude auf der litauischen Luftwaffenbasis Siauliai ein paar Hundert Meter zu den Flugzeughangars mit den zwei vollgetankten und bewaffneten F-15-Abfangjägern. Bis die Jets zum Start rollen, vergehen weniger als 15 Minuten – das ist das Limit für den QRA, den Quick Reaction Alert, wie die Alarmrotte im Nato-Jargon heißt.

Einige Augenblicke später bohren sich zwei graue US-Jets kurz hintereinander in den grauen Himmel. An diesem Nachmittag ist alles nur eine Übung. Doch seit die Russen vor einigen Wochen die Krim annektiert haben, ist das kleine Litauen wie auch seine baltischen Nachbarn Lettland und Estland besorgt über weitergehende russische Expansionsziele. Deshalb hat das US-Europa-Kommando (Eucom) in Stuttgart auf Geheiß des Pentagons kurzfristig zu den regulären vier Flugzeugen sechs zusätzliche F-15 C Eagle plus Piloten und Bodenpersonal zur Nato-Luftraumüberwachung auf die riesige frühere sowjetische Luftwaffenbasis Siauliai 40 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Vilnius verlegt. Alles in allem 160 Soldaten.

Im Mai übergeben die USA die Luftraumüberwachung an die Polen. Dann werden sich Polen, Briten und Dänen mit zwölf Jets beteiligen. Und auch Deutschland, das das „Air Policing“ schon mehrfach übernahm, hat gerade einen verstärkten Beitrag mit bis zu sechs Eurofightern beschlossen, die mit portugiesischen Jets ab September zum Einsatz kommen. Das beabsichtigte Signal: Die Balten, seit 2004 in der Nato, aber ohne eigene Kampfjets, sollen beruhigt und etwaige russische Ambitionen abgeschreckt werden.

Oberleutnant Matthew „Grate“ Scott ist seit fast sechs Wochen in Litauen stationiert. Der 25-jährige US-Pilot aus Vermont lächelt verlegen: In dieser Zeit musste er noch keinen ernsten Einsatz fliegen und ein fremdes Flugzeug identifizieren oder abfangen. „Dafür trainieren wir ja schließlich“, meint der Mann, dessen Großvater und Vater ebenfalls schon Kampfpiloten bei der Air Force waren.

Der Einsatz in Siauliai ist seine allererste Mission. Seit 14 Monaten ist Scott beim 493. Jagdgeschwader („Die Sensenmänner“), das im englischen Lakenheath beheimatet ist. Wie nahe er oder seine Kollegen in der Luft schon den Russen gekommen sind, verrät er nicht. „Das betrifft die Sicherheit unserer Operationen“, so die Standardformel. Geführt werden die Nato-Piloten vom Luftoperationszentrum der Allianz in Uedem in Nordrhein-Westfalen. Die Litauer helfen mit dem Luftlagezentrum in Kaunas. Der neue estnische Fliegerhorst Ämari strebt ebenfalls nach einer Rolle bei der Luftraumüberwachung. Scott berichtet immerhin, dass Piloten der russischen Luftwaffe oft nahe an der Grenze zum baltischen Luftraum fliegen. Sie würden nur selten mit den zivilen Fluglotsen am Boden kommunizieren oder vorab über ihre Flugpläne informieren.

Die US-Piloten müssen einen gut 50 Kilometer breiten Sicherheitsabstand von der russischen Grenze einhalten. Auch die russische Luftabwehr dürfen sie nicht testen. Außerdem sind die F-15-Jets auf ihren Trainingsflügen zwar mit radargelenkten und hitzesuchenden Luft-Luft-Raketen bewaffnet. Gewalt dürfen sie nur im äußersten Notfall zur Selbstverteidigung anwenden. Scott ist sich aber im Klaren darüber, wie nah die Bedrohung potenziell ist. Denn die Russen sind nicht weit weg von dem von Scott und seinen Pilotenkollegen überwachten rund 160 Kilometer langen und 80 Kilometer breiten Luftraum über dem Baltikum. „Sie könnten in zehn Minuten hier sein“, schätzt der junge Pilot. In einem Ernstfall nicht viel Zeit zur Selbstverteidigung.

„Wir schützen hier den Luftraum eines souveränen Nato-Staates“, erklärt Major Barack Amundsen, als er nach einem gut zweistündigen Übungsflug verschwitzt aus dem Cockpit seiner F-15 klettert. Mit einem zweiten US-Kampfpiloten hat er an diesem Nachmittag gegen vier feindliche Angreifer Verteidigung geübt. „Die Guten haben gewonnen“, sagt er und grinst übers ganze Gesicht. Auch er möchte über die Russen nicht viele Worte verlieren. „Seit es die Überwachung gibt, haben die Verletzungen des Luftraums abgenommen“, antwortet er nur allgemein. Offen berichten die US-Piloten dagegen, wie freundlich sie in Siauliai, mit rund 120 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Litauens, aufgenommen werden. „Manchmal kommen die Menschen sogar auf einen zu und bedanken sich“, erzählt Oberleutnant Scott.

Ein Grund dafür: Seit der Annexion der Krim durch die Russen und russischen Muskelspielen in unmittelbarer Nachbarschaft – ein großes Manöver in der russischen Exklave Kaliningrad, dem früheren Königsberg, und ein weiteres in der Nähe der estnischen Grenze – machen sich viele Balten Sorgen. Mancher Litauer hat sich zu Hause sogar mit Proviant für den Notfall eingedeckt, erzählt Oberleutnant Ieva Gulbiniene von der litauischen Luftwaffe. „Vergessen Sie nicht, wir kennen die Russen sehr gut“, meint die stolze blonde Soldatin mit Blick auf die gemeinsame Geschichte: Jahrhundertelang waren die Balten Teil des russischen Reiches. Außerdem waren sie 50 Jahre lang unter der Knute der kommunistischen Sowjetunion.

Gulbiniene ist froh darüber, dass die USA so schnell nach der Eskalation auf der Krim reagiert hat und sechs zusätzliche F-15-Jets nach Litauen verlegt hat. „Natürlich erhöht das die Abschreckung“, will sie Zweifel wegen der insgesamt recht klein ausgefallenen Verstärkung erst gar nicht aufkommen lassen. Das kleine Litauen hat keine große Luftwaffe. Insgesamt nur 1300 Männer und Frauen in Uniform, verfügt sie über ein einziges leichtes Kampfflugzeug, das aber gerade nicht flugtauglich ist. Dazu eine Einheit mit Transportflugzeugen sowie Hubschrauber.

Doch das Land hat gerade erst beschlossen, seine Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2020 auf das vereinbarte Nato-Ziel von zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt anzuheben. Sie hofft, dass viele Nato-Staaten weiter westlich dem litauischen Beispiel folgen werden. Die Krim-Krise sollte das „alte Europa“ aus seiner Nachlässigkeit wachrütteln, meint Gulbiniene entschieden. „Old Europe“, sagt sie in makellosem amerikanischem Englisch. Sie meint Westeuropa damit und erinnert so an den barschen früheren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Bei ihr klingt es allerdings nicht abschätzig. Und wie die politische Führung ihres Landes will sie eine dauerhafte Anwesenheit von Nato-Einheiten, inklusive Bodentruppen, in Litauen. „Auch mehr Deutsche wären uns willkommen.“

Genau darüber ist Nato-intern die Debatte bereits in vollem Gange. Ende März erklärte der Nato-Oberkommandierende, US-Luftwaffengeneral Philip Breedlove, das Bündnis müsse über eine passende Antwort auf aggressive russische Truppenbewegungen an den östlichen Bündnisgrenzen nachdenken. Die Nato könnte in der Tat Streitkräfte dauerhaft in östliche Bündnispartner verlegen und auch mehr Manöver dort durchführen. Dabei ist im Augenblick offen, ob auch die Führungsmacht USA bereit wäre, ihre strategische Verpflichtung gegenüber dem Bündnis – über die relativ bescheidene Antwort mit den F-15-Jets hinaus – etwa mit Bodentruppen im sich unsicher fühlenden Osteuropa neu zu untermauern.

Und auch Deutschland muss bis zum Nato-Gipfel im September über eine strategische Neuausrichtung der Allianz und mögliche militärpolitische Folgen für die Bundeswehr nachdenken. „Putins Russland hat uns doch gezeigt, dass die Nato nicht tot, sondern noch ziemlich lebendig ist“, meint Oberleutnant Gulbiniene. Ihre Hoffnung ist dabei nicht zu überhören.