Vor allem Mädchen sind gefährdet, in die Magersucht zu rutschen. Foto: dpa/Jens Kalaene

In der Pandemie haben viele Mädchen eine Essstörung entwickelt – oder einen Rückschlag erlitten. Angebote für Betroffene werden weiter stark benötigt. Teils gilt es auch, die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken.

Es ist ein Leben wie auf dem Standstreifen: Neben einem rauschen alle vorbei, man selbst steht da mit Warnblinker. „Ich habe das Gefühl, das Leben gleich doppelt verpasst zu haben“, so schilderte es eine Jugendliche erst vor wenigen Tagen in einer Gruppe für Mädchen und junge Frauen mit Essstörung im Mädchengesundheitsladen im Stuttgarter Westen, wo die Gruppe unterstützt von der Anlaufstelle bei Essstörungen (Abas) angeboten wird. Zuerst löste die Pandemie die erste Vollbremsung aus – und nun die Essstörung. Während die Gleichaltrigen wieder auf Partys gingen, sei das für Menschen mit einer Essstörung schwierig, erklärt die Sozialpädagogin Kristin Komischke vom Mädchengesundheitsladen, die die Gruppe mitverantwortet. Denn eine Essstörung sei oft mit sozialem Rückzug beziehungsweise sozialen Ängsten verbunden.

Die Zahl der Betroffenen mit Essstörung ist in der Pandemie gestiegen. Das zeigen auch die Anfragen bei Abas, die allein zum Thema Magersucht um 34 Prozent zugenommen haben, vergleicht man die Zahlen von 2019 (294 Anfragen) mit denen von 2021 (395 Anfragen). Entspannung sei nicht in Sicht, so die Sozialpädagogin Marianne Sieler von Abas, die Anfragen blieben konstant hoch. Wobei dies nur für die Mädchen gelte, bei den Jungen sei bei den Essstörungen aus ihren Zahlen kein Anstieg ersichtlich. Sie müssen diese krisenhafte Zeit anders kompensiert haben, zum Beispiel durch gesteigerten Medienkonsum.

Rund 15 Prozent der Magersüchtigen überleben die Essstörung nicht

Es habe in der Coronazeit mehrere Entwicklungen gegeben, berichten die Expertinnen: Die einen Mädchen hätten die Essstörung neu entwickelt. Andere seien von problematischem Essverhalten in die Essstörung reingerutscht, weitere hätten einen Rückfall erlebt. Erstaunlich sei gewesen, wie rasant der Verlauf immer wieder war. Eine 19-Jährige, die zu ihnen in die Gruppe kam, sei vor Corona normalgewichtig gewesen. Nach nur sechs Monaten habe sie einen BMI von nur 14 gehabt, berichtet Komischke. Das ist lebensgefährlich, unterhalb von 14,5 ist der Stoffwechsel im Gehirn beeinträchtigt. Rund 15 Prozent der Magersüchtigen überlebten diese nicht, betont Sieler.

„Sie müssen raus wollen aus der Essstörung“

In die Kliniken schwappe die große Welle erst jetzt. Die Wartezeit auf einen Therapieplatz sei oft lang. Umso wichtiger seien die eigenen Angebote, meint man im Gesundheitsladen. Dort gibt es die Sprechstunden bei Abas und das Gruppenangebot mit dem Mädchengesundheitsladen, um Wartezeit zu überbrücken oder nach einem stationären Aufenthalt dranzubleiben. Die offene Jugendsprechstunde sei zum Glück regelfinanziert, die offene Sprechstunde Essstörungen jedoch nicht – dabei sei diese immer wieder die erste Anlaufstelle für Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machten, so Sieler. Auch die Mädchengruppe muss über Spenden finanziert werden. Teilnehmen können Betroffene zwischen 16 Jahren und Anfang 20, die eine Essstörung haben, sie müssen aber eine Voraussetzung mitbringen: „Sie müssen raus wollen aus der Essstörung“, betont Kristin Komischke.

Dass die Gruppe professionell begleitet wird, ist wichtig. Schließlich besteht bei Mädchen mit Essstörungen immer die Gefahr, dass sie sich gegenseitig unter Druck setzen und eine Art Konkurrenz entsteht. Es gebe deshalb auch Gruppenregeln, die sich die Mädchen selbst setzten, erklärt Kristin Komischke. Meist gehöre dazu: „Wir reden nicht über Zahlen, damit man nicht ins Vergleichen kommt.“ Also, das eigene Gewicht, wie viel man abgenommen hat, wird nicht genannt. Im Januar beginnt wieder ein Gruppenangebot. Auch dank der Aktion Weihnachten. Die Benefizaktion sorgt dafür, dass die Mädchengruppe 2023 weiter angeboten werden kann. Auch die offene Sprechstunde bei Abas wollen wir erneut ermöglichen.

So können Sie spenden – Infos zur Mädchengruppe

Konten
Die Aktion Weihnachten freut sich über Spenden, damit wir möglichst vielen Menschen in Not helfen können. Wenn Ihr Name als Spender veröffentlicht werden darf, vermerken Sie das bitte unbedingt bei der Überweisung. Die Konten lauten: Baden-Württembergische Bank, IBAN DE04 6005 0101 0002 3423 40, oder Schwäbische Bank, IBAN DE85 6002 0100 0000 0063 00. Sachspenden können wir aus logistischen Gründen nicht annehmen.

Gruppe
Die Gruppe für junge Frauen und Mädchen mit Essstörungen startet wieder Ende Januar – und zwar immer montags von 17 bis 19 Uhr, der erste Termin ist am Montag, 23. Januar. Nähere Informationen zur Anmeldung gibt es hier.