Matthias von Herrmann ist Parkschützer Nummer 190, Reizfigur und seit zwei Jahren das Gesicht des Widerstands.
Stuttgart - Den Protest hatte sich mancher Fernsehzuschauer wohl anders vorgestellt. Als im Schlossgarten die Wasserwerfer anrückten, Polizei und Demonstranten aufeinandertrafen, es Hunderte Verletzte gab und schwere gegenseitige Vorwürfe hagelte, rückte als Gesicht des Widerstands ein junger Mann ins Bild, der so gar nicht ins Schema passen wollte. Die Parkschützer-Organisation war in aller Munde, und ihr Sprecher Matthias von Herrmann wirkte weder wie ein Öko noch wie ein Straßenkämpfer. Stattdessen stand da ein blasser Politologe mit randloser Brille vor den Kameras, der überlegte, aber scharfe Sätzen formulierte.
Der Protest gegen Stuttgart 21 hat von Herrmann binnen kurzer Zeit bekannt gemacht – und von Herrmann den Protest. Wer den Namen heute im Internet in die Suchmaschine Google eingibt, erhält fast 83.000 Treffer, Hunderte Fotos und Videos. In gleichem Maße, wie der Bekanntheitsgrad gestiegen ist, polarisiert der Parkschützer-Sprecher. Für die einen ist er Sprachrohr einer ganzen Bewegung, für die anderen ein Zündler, ein rotes Tuch.
Viele Äußerungen des Projektgegners provozieren. Und immer wieder muss er Aktionen wie Hausbesetzungen oder Straßenblockaden in Worte kleiden. Einmal musste von Herrmann selbst zurückrudern: als er die Stürmung der Baustelle im Schlossgarten mit neun verletzten Polizisten und hohem Sachschaden im Juni 2011 als „friedliche Versammlung in gelöster Feierabendstimmung“ bezeichnete. Ansonsten sind Relativierungen nicht sein Ding. Viele, Projektgegner wie Befürworter, fragen sich, was diesen Mann antreibt.
Über sich selbst, sagt von Herrmann, rede er ungern
Jedenfalls nicht das Geld, wie manche unterstellen. „Wir machen das alle rein ehrenamtlich“, sagt Matthias von Herrmann und bleibt ob des Vorwurfs äußerlich völlig ungerührt. Es ist ein milder Nachmittag, und er ist zum Gespräch in den Schlossgarten gekommen: Jeans, Hemd, Brille – wie man den 39-Jährigen seit Jahren kennt. Am Vorabend hat er noch auf der Montagsdemonstration gesprochen, jetzt erzählt er, dass die jede Woche 2500 Euro kostet. Diese Summe können die Parkschützer ebenso wie ihr Büro in der Urbanstraße über Spenden finanzieren. Die fließen nach wie vor.
Über sich selbst, sagt von Herrmann, rede er ungern. Schließlich gehe es ihm um die Sache. Doch die Frage, wie einer „in Spitzenzeiten bis zu 16 Stunden am Tag“ in den Widerstand gegen Stuttgart 21 stecken kann, muss erlaubt sein. Der geborene Esslinger war lange bei Greenpeace in Stuttgart aktiv. Nach dem Abitur in Sillenbuch studierte er Politik, Volkswirtschaftslehre und Chemie, arbeitete danach lange als Assistent der Geschäftsführung in einem metallverarbeitenden Betrieb in Schorndorf. Im August 2010, kurz vor dem Abriss des Nordflügels des Hauptbahnhofs, kam die Kündigung. Nicht wegen seiner Parkschützer-Aktivitäten, betont von Herrmann, sondern weil es der Firma nicht gutging.
„Ich habe gemerkt, dass mir das richtig Spaß macht“
Diesen an sich schwierigen Moment bezeichnet er heute als „glücklichen Zufall“. Denn das Engagement bei den Parkschützern überstieg längst das Zeitbudget. „Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte“, sagt der Politologe, „vielleicht hätte ich auf 50 Prozent reduziert.“ So meldete er sich arbeitslos, steckte seine ganze Zeit in den Widerstand – und war schnell in den Medien allgegenwärtig. „Ich habe gemerkt, dass mir das richtig Spaß macht“, sagt er. Inzwischen betreibt er eine Beratungsfirma für Pressearbeit, will besonders Firmen als Kunden gewinnen. Dass seine Kontakte und Erfahrungen aus dem Protest dabei nützlich sein können, daraus macht er kein Geheimnis.
Warum er zum Stuttgart-21-Widerstand gekommen ist? Die Erklärung klingt zunächst überraschend. „Ich bin sehr konservativ“, sagt der Sohn einer Lehrerin und eines Philosophie-Professors. Er verstehe das aber „im eigentlichen Sinn: Mir geht es um das Bewahren von Werten, Natur und Umwelt.“ Ende 2009 trug er sich deshalb bei den Parkschützern ein. „Ich bin Nummer 190“, sagt er nüchtern. Irgendwann brauchte man ein Gesicht nach außen. Von Herrmann wurde Aktionstrainer, der die richtige Blockadetaktik erklärt, und Sprecher. Er machte Erfahrungen mit Hausdurchsuchungen, kassierte mehr als zehn Anzeigen, hatte sich mit Lob und Kritik an seiner Person auseinanderzusetzen. All das erzählt er erstaunlich emotionslos.
Nur einmal wirkt er kurzzeitig erregt – als er seine Gründe gegen das Bahnprojekt aufzählt. „Selbst wenn diese enorme Geldverschwendung nichts kosten würde, dürfte man so etwas nicht machen“, sagt er, und die Stimme zittert leicht. Die Stadt erleide enorme Nachteile. Am meisten störe ihn die Vorstellung, „dass dieses schlechte Bahnsystem, das da geplant wird, nicht wieder zurückgebaut werden kann.“ Im schlimmsten Fall habe man Tunnelröhren, die man nicht verwenden könne. Der städtebauliche Aspekt? „Dafür sehe ich keine Notwendigkeit.“ Der größere Schlossgarten? „Der ist eine Milchmädchenrechnung.“ Er lehnt sich auf der Bank zurück und wiederholt gedankenversunken: „So etwas darf man nicht machen.“
„Wir haben auch einmal gedacht, dass wir wegziehen, wenn Stuttgart 21 gebaut wird“
Bei so viel Kritik müsste man annehmen, Stuttgart sei auf Dauer kein gutes Pflaster für von Herrmann. Doch der will seine ganz persönliche Baustelle nicht aufgeben. Stattdessen hat er in den vergangenen Wochen Flugblätter in Briefkästen in guter Lage gesteckt und so nach einem Haus gesucht. Das will er zusammen mit seiner Partnerin Carola Eckstein kaufen. Widerstand ganz bürgerlich. Die promovierte Mathematikerin ist wie er bei den Parkschützern aktiv, die beiden haben sich dort kennengelernt.
„Wir haben auch einmal gedacht, dass wir wegziehen, wenn Stuttgart 21 gebaut wird“, sagt von Herrmann. Aber Familie und Freunde seien zu wichtig, man habe beim Protest viele „tolle und fähige Leute“ getroffen. „Außerdem“, sagt von Herrmann und blinzelt in die Sonne, „gehen wir ja davon aus, dass das Projekt nicht gebaut wird.“
Bis dahin will der 39-Jährige weitermachen bei den Parkschützern. Vielleicht etwas zurückgezogener als bisher. Die Sprecherfunktion wird künftig auf mehrere Schultern verteilt sein. Doch ein kompletter Ausstieg aus dem Kampf für den Ausstieg kommt für den Politologen nicht infrage. „Ich bin kein Tempomacher wie beim 10.000-Meter-Lauf, der kurz vor dem Ziel aussteigt. Die Sache ist mir zu wichtig. Ich werde mich nicht vor dem Sieg zurückziehen“, sagt er trotzig.
Da ist er wieder, der Vorkämpfer des Widerstands. Der Mann im Vordergrund will weiter im Gespräch bleiben.