Protest auch in Stuttgart: Am Samstag demonstrierten mehrere Hundert Menschen in der City gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Das Echo in der deutsch-türkischen Community auf die Massenproteste in der Türkei fällt unterschiedlich aus: Viele halten sich raus, doch etliche sprechen auch offen aus, was sie denken.

Die Bilder aus Instanbul gehen um die Welt. Am Wochenende demonstrierten dort Hunderttausende gegen den seit 2014 amtierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, den sie für den Urheber der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu halten . Die Bilder, die gleichzeitig in Stuttgart zu beobachten waren, sind dagegen überschaubar. Doch auch hier gingen am Samstag mehrere Hundert Menschen auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Protestierenden in der Türkei auszudrücken. Dazu aufgerufen hatte der Verein CHP Württemberg. Er vertritt die Interessen der größten Oppositionspartei in der Türkei, der auch İmamoğlu angehört.

 

Die in Esslingen gebürtige Nazan Kilic ist dort Mitglied. Sie war bei der Demo in Stuttgart dabei. Protestiert hätten aber keineswegs nur CHP-Anhänger, berichtet sie: „Es haben auch viele Menschen teilgenommen, die der CHP nicht angehörten.“ Darin sieht sie eine Besonderheit der Proteste hier wie dort: „Sie sind überparteilich!“ Auch Anhänger der Regierungspartei AKP seien darunter, die nun umdenken würden. Auffällig ist für Kilic zudem die Altersstruktur: „Es ist vor allem die Jugend, die auf die Straße geht.“ Viele von ihnen hätten mit den traditionellen Parteien nichts am Hut – auch nicht mit der CHP. Sie treibe vor allem die Sorge um ihre persönliche Zukunft um.

Die Aberkennung des Hochschulabschlusses von Bürgermeister İmamoğlu, der Voraussetzung für eine Präsidentschaftsbewerbung ist, wirkte nach Ansicht der türkeistämmigen Esslingerin wie ein Fanal. Nach dem Motto: Wenn man einem Bürgermeister den Abschluss wegnehmen könne, dann müsse jeder in der Türkei davor Angst haben. Auf einem der Plakate, die junge Leute am Samstag in der Stuttgarter Innenstadt hochhielten stand sinngemäß zu lesen: ,Erdoğan sieh her: Ich studiere in Deutschland. Hier muss ich nicht fürchten um mein Zeugnis fürchten!‘

Protestschild in Stuttgart Foto: Lichtgut / Ferdinando Iannone

Auch Gökay Sofuoğlu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und SPD-Stadtrat in Fellbach, betont den jungen Charakter der Proteste, die friedlich und mit Humor vorgetragen würden. Davon zeugten Demonstranten in Spiderman- und Pikachu-Kostümen, wobei sich speziell die Pokémon-Figur zu einem Symbol der Proteste entwickelt hat, die Erdoğan als „Straßenterror“ brandmarkt. Die jungen Leute treibe vor allem die Sorge um die Arbeitsplätze und die Wirtschaft um und der Ruf nach Freiheit. Dabei gingen sie sehr kreativ vor, beobachtet Sofuoğlu. Gleichzeitig sorgt er sich um ihre Sicherheit: „Die jungen Leute nehmen viel in Kauf.“ Mehrere Hundert Demonstranten seien bereits verhaftet worden.

Sofuoğlu verspürt „Angst und Hoffnung“ zugleich. Auch die Angst, ob in der Türkei überhaupt wieder echte Wahlen stattfinden werden. Die nächsten Präsidentschaftswahl stehen eigentlich für 2028 an. Nach der Verhaftung İmamoğlus, hatte die CHP den abgesetzten Bürgermeister zum Präsidentschaftskandidaten gekürt – übrigens auch in Stuttgart, wo, wie in der Türkei, nicht nur CHP-Mitglieder abstimmten. Als Zeichen des Protestes und der Solidarität wurde bei der Abstimmung am 23. März auch im Wahllokal in Wangen eine zweite, symbolische Wahlurne aufgestellt. Laut Sofuoglu beteiligten sich mehrere Tausend Menschen.

Karaahmetoğlu: „Der Protest ist in der deutsch-türkischen Community längst angekommen“

Was sagt das aus über die Stimmung in der türkischen Community in Stuttgart, wo mehr als 40 000 Türkeistämmige leben? Kerim Arpad, Geschäftsführer der deutsch-türkischen Forums Stuttgart, sieht weiterhin eine „sehr heterogene Gemeinschaft“. Der Protest sei über die traditionellen Parteien hinausgewachsen. Gleichzeitig gebe es weiterhin viele Türkeistämmige, die aufseiten Erdoğans stünden: „Und viele halten sich auch ganz raus.“ Bei der Stichwahl am 23. Mai 2023 zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP war das Ergebnis in Stuttgart eindeutig: von den rund 50 Prozent der rund 150 000 wahlberechtigten Türken in Württemberg stimmten 71,3 Prozent für den Amtsinhaber. Bundesweit waren es 67,2 Prozent. Aus Sicht von Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne), die als Zwölfjährige mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland kam, stellte sich angesichts dieses Ergebnisses auch die Frage „nach der Integration“.

Der türkeistämmige Ludwigsburger Bundestagsabgeordneten Macit Karaahmetoğlu, der zuletzt Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe war, sieht inzwischen einen Wandel: „In der deutsch-türkischen Community ist der Protest längst angekommen“, erklärt er. Das zeigten die Demonstrationen in verschiedenen Regionen Deutschlands. „Hier findet ganz sicher auch ein Umdenken statt, selbst bei eigentlich traditionellen AKP-Wählern. Das System Erdogan führt die Türkei in düstere Zeiten – das sieht inzwischen ein Großteil der Community.“

Nach einem kritischen Post stand die Polizei vor der Tür

Ein spontanes Meinungsbild in der Mauserstraße in Stuttgart-Feuerbach, die auch Klein-Istanbul genannt wird, ergibt am Montagvormittag ein gemischtes Bild: „Mit Politik haben wir nichts zu tun“, lautete die Reaktion mehrerer Befragter. Andere haben den Mut, ihre Meinung zu äußern. Ein türkeistämmiger Taxifahrer unterstützt die Proteste ausdrücklich: „Es geht um Demokratie um Freiheit und Gerechtigkeit“, sagt er. Von etlichen Taxifahrer-Kollegen weiß er jedoch, dass sie anders denken. Klare Worte formuliert auch ein junger Mann, der vor vier Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, sich hier selbstständig gemacht hat und jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebt: „Das System in der Türkei ist eine Katastrophe – wirtschaftlich, aber auch politisch.“ Aus eigener, angstvoller Erfahrung weiß er: „Es gibt dort keine Meinungsfreiheit.“ Nachdem er in der Türke einen regierungskritischen Beitrag in Social Media abgesetzt hatte, stand plötzlich die Polizei vor der Tür. An Deutschland schätzt er „frei sagen zu können, was ich denke.“

Die Hoffnung auf Zusammenhalt

Wie geht es mit den Protesten weiter? Gökay Sofuoğlu von der Türkischen Gemeinde vermeidet eine Prognose: „Heutzutage kann sich von heute auf morgen vieles verändern.“ Der Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoglu glaubt: „Spätestens bei einer gewaltsamen Niederschlagung der Proteste könnten sich die Partner Erdogans, aber auch Akteure bei Polizei und Justiz fragen, ob Loyalität gegenüber einem wankenden Präsidenten noch die richtige Entscheidung ist.“ Und Nazan Kilic, die Esslingerin, sagt: „Wenn die Menschen zusammenhalten und sich nicht zurückziehen, können sie etwas bewirken!“