Der neue ICE soll durchs Murrtal durchrauschen – zwischen Stuttgart und Berlin nur in Nürnberg einen einzigen Halt machen. Foto: dpa

Von Stuttgart nach Berlin in Rekordzeit: Der neue ICE-Sprinter weckt im Murrtal massive Bedenken – die Kritik birgt Zündstoff.

Noch ist es nicht offiziell, doch es gilt als offenes Geheimnis: Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember plant die Deutsche Bahn eine neue ICE-Sprinter-Verbindung zwischen Stuttgart und Berlin. Der Zug soll durchs Herz des Murrtals rollen, über Backnang, Murrhardt und Schwäbisch Hall.

 

Was nach Innovation klingt, birgt Sprengstoff. Denn der Sprinter soll auf seiner Route – abgesehen von einem Halt in Nürnberg – nicht einmal anhalten. Für die Region bedeutet das: kein Nutzen, aber potenziell große Nachteile. Und das auf einer Strecke, die ohnehin am Limit fährt.

Murrbahn: Eingleisig, überlastet – und bald auch noch ein ICE

Die Murrbahn ist auf weiten Abschnitten eingleisig. Hier gilt: Einer fährt, der andere wartet. Und das täglich. Verspätungen sind Routine, Umleitungen keine Ausnahme. Der ICE-Sprinter, so heißt es, soll um 7.03 Uhr in Stuttgart starten und gegen 11.55 Uhr in Berlin ankommen – eine Stunde schneller als über Frankfurt.

Der Preis dafür? Regionalzüge müssten warten, S-Bahnen könnten aus dem Takt geraten, Pendler noch öfter zu spät kommen. Ein Schnellzug auf einer Schneckenstrecke – mit Vorrang vor dem Alltag der Region.

Kein Zukunftsmodell für die Region

„Ein Fernzug, der durchfährt, aber nirgends hält – das kann nicht das Zukunftsmodell für unsere Region sein“, warnt Murrhardts Bürgermeister Armin Mößner. Er fordert Zwischenhalte, mindestens in Schwäbisch Hall oder Murrhardt, sowie kurzfristige Ausbaumaßnahmen wie Doppelspurinseln.

Die Rathauschefs von Murrhardt und Backnang: Armin Mössner (links) und Maximilian Friedrich Foto: Stadt Murrhardt, Gottfried Stoppel

Auch Backnangs Oberbürgermeister Maximilian Friedrich spricht Klartext: „Backnang darf nicht zum Zuschauer degradiert werden.“ Ohne Halt in der „Murrmetropole“ und zweigleisigen Ausbau sei der ICE auf dieser Strecke nicht tragbar. Sein Appell an Bund und Land: Handeln – bevor der erste Sprinter rollt.

Ralf Nentwich, Landtagsabgeordneter der Grünen aus Murrhardt, schlägt in dieselbe Kerbe: „Die Bahn hat endlich erkannt, welche Chancen in der Murrtalstrecke liegen. Aber damit das für die Menschen hier wirklich ein Gewinn wird, gehört zwingend ein Halt in Backnang dazu.“ Der zweigleisige Ausbau sei zudem keine Option, sondern Voraussetzung für verlässliche Anbindung.

Bundestagsabgeordnete schlagen Alarm

Auch aus Berlin und Stuttgart kommt Unterstützung – mit mahnenden Untertönen. Grünen-Verkehrspolitiker Matthias Gastel nennt die Verbindung „längst überfällig“, macht aber klar: „Es hätte schon längst den zweigleisigen Ausbau gebraucht.“ CDU, CSU und SPD hätten hier über Jahre versagt.

Die SPD-Landtagsabgeordnete Simone Kirschbaum aus Backnang erkennt in der ICE-Verbindung eine Chance, warnt jedoch: „Der Nahverkehr muss oberste Priorität haben.“ Ihre Forderung: Ausbau jetzt – sonst kippt die Balance zwischen Fern- und Regionalverkehr endgültig.

Noch deutlicher wird die CDU-Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle gegenüber der Lokalzeitung. Die Strecke sei „nicht ICE-tauglich“ und müsse „grundlegend ertüchtigt“ werden, wird sie dort zitiert. Ihre Sorge: Der Sprinter werde zum Bremsklotz – nicht nur für Pendler, sondern für die gesamte Region.

Ein ICE, der durchrauscht, ohne Rücksicht auf den Takt des Alltags: Für viele Kommunen im Murrtal ist das kein Fortschritt, sondern Rückschritt. Die Region fühlt sich überfahren, im wörtlichen Sinne.

Aktivisten warnen vor „Rennstrecke für wenige“

Besonders scharf fällt die Kritik vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 aus. Klaus Riedel, ehemaliger SPD-Kommunalpolitiker und glühender ÖPNV-Befürworter aus Waiblingen, spricht von einer „Rennstrecke für wenige, auf Kosten vieler“. Während Fernreisende von Berlin nach Stuttgart rasen, bleiben Pendler im Murrtal auf der Strecke – in verspäteten Zügen und mit verpassten Anschlüssen.

Die Aktivisten werfen der Bahn vor, mit dem Sprinter von den eigentlichen Problemen abzulenken, um Flixtrain Konkurrenz zu machen. Der grüne Billiganbieter fährt über Frankfurt kaum langsamer, dafür aber deutlich günstiger.

RE 90 im Schatten des ICE – droht der Nahverkehrskollaps?

Besonders brisant: Der ICE soll den RE 90 überholen, den einzigen durchgehenden Regionalexpress zwischen Stuttgart und Nürnberg. Das bedeutet: Der RE muss warten, vermutlich zehn Minuten. Täglich. Im Berufsverkehr. Für Pendler wäre das ein weiteres Ärgernis auf einer Strecke, die ohnehin für ihre Unpünktlichkeit berüchtigt ist.

Auch die S-Bahn-Linie S3, die in Backnang an den Regionalverkehr anschließt, könnte ins Schlingern geraten. Wer morgens auf den Zug angewiesen ist, muss künftig wohl mehr Geduld mitbringen und weniger Verlässlichkeit erwarten.

Ausbau gefordert seit Jahrzehnten, bislang vergeblich

Die Forderung nach einem zweigleisigen Ausbau ist nicht neu. Seit Jahren steht sie in den Plänen, seit Jahrzehnten in den Reden. Passiert ist wenig. Nun droht der ICE die Probleme zu verschärfen. Die Botschaft aus dem Murrtal ist unmissverständlich: ICE ja – aber nur mit Halt in Backnang und einem zweigleisigen Ausbau. Alles andere wäre ein Schnellschuss mit Langzeitfolgen.