Willi Bleicher ist vor allem als Gewerkschaftsführer bekannt. Ein neues Buch beleuchtet jetzt besonders seine von NS-Verfolgung geprägte erste Lebenshälfte.
„Der Junge lebt. Er ist am Leben geblieben. Wenn nichts in meinem Leben an Spuren übrig geblieben wäre – nur diese Spur hätte es gerechtfertigt, hätte mein Leben lebenswert werden lassen, auch wenn ich ganz unten geblieben wäre nach 1945.“ Der Junge, von dem Willi Bleicher 1977 im Rückblick sprach, war der knapp dreijährige Stefan Jerzy Zweig, Sohn von Zacharias Zweig, einem jüdischen Rechtsanwalt aus Krakau. Zacharias Zweig war mit dem Kind ins KZ Buchenwald verschleppt worden; seine Frau und seine Tochter wurden nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Auch der kleine Stefan Jerzy drohte in das Vernichtungslager deportiert zu werden.
Ein „Gerechter unter den Völkern“
Willi Bleicher, der spätere langjährige IG-Metall-Bezirksleiter aus Stuttgart, der zu den prägenden Gewerkschaftern in Nachkriegsdeutschland zählte, hatte großen Anteil daran, dass es nicht so kam. Als Funktionshäftling und Kapo der Effektenkammer in Buchenwald konnte er die Rettung des Kindes mit erwirken. Seine Tat machte ihn für die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu einem „Gerechten unter den Völkern“. Sie diente auch als Vorlage für einen Roman von Bruno Apitz („Nackt unter Wölfen“). In den 1960er Jahren trafen sich Stefan Jerzy und Bleicher nochmals persönlich.
Die „Rettung des Kindes von Buchenwald“ ist ein besonders eindrückliches Kapitel im Leben des 1907 in Cannstatt geborenen und 1981 verstorbenen Willi Bleicher, das der Autor und Filmemacher Hermann G. Abmayr in seinem neuen Bleicher-Buch „Texte eines Widerständigen“ hervorhebt – in Fortführung seiner bereits 1992 veröffentlichten Biografie „Wir brauchen kein Denkmal — Willi Bleicher, der Arbeiterführer und seine Erben“. Auch bei dem jetzt vorliegenden, 480 Seiten umfassenden Bleicher-Nachschlagewerk mit Briefen, Gewerkschaftsreden und Interviews geht es Abmayr nicht darum, ein Denkmal zu errichten, vielmehr will er „einen Beitrag leisten, Geschichte und damit auch unsere Gegenwart besser zu verstehen“.
Bleicher habe sein Leben lang vor einem Wiedererstarken des Faschismus gewarnt und gefordert, „gewappnet zu bleiben gegen jeden Angriff“. Bleicher, der Bäcker lernte und Organisationsleiter bei der Kommunistischen Jugend-Opposition war, hatte schon als junger Mann schmerzliche Erfahrungen mit den Nationalsozialisten gemacht. 1936 wurde er in Stuttgart-Untertürkheim verhaftet und wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Ulm absaß, um anschließend ins Gestapogefängnis nach Welzheim und später ins KZ Buchenwald gebracht zu werden, das er ebenso überlebte wie die Todesmärsche durchs Erzgebirge im April 1945. Schließlich befreiten ihn amerikanische Truppen. Über Buchenwald kehrte Bleicher nach Stuttgart zurück. Nach dem Krieg begann er hier seine Gewerkschaftskarriere, die ihn vom Jugendsekretär bei der Metallgewerkschaft bis zum IG-Metall-Bezirksleiter aufsteigen und im Tarifkampf zum hartnäckigen Konterpart des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer werden ließ.
Sensibler Familienmensch, der seine Mutter über alles liebt
Ein Großteil des Buches ist der von der NS-Zeit und Haft geprägten ersten Lebenshälfte Willi Bleichers gewidmet. Lesenswert ist etwa ein Interview, das der SDR-Redakteur Klaus Ullrich 1973 mit Bleicher führte und in dem dieser erstmals ausführlich über sein Haftzeit sprach. Bewegend auch die erstmals veröffentlichen Briefe Bleichers aus dem Gefängnis und aus dem KZ. Darin tritt eine wenig bekannte Seite des späteren Gewerkschaftsführers hervor – die eines sensiblen Familienmenschen und jungen Mannes, der, wie Abmayr herausstellt, „seine Mutter über alles liebt und verehrt und gelegentlich auch auf die Bibel verweist“.
Seiner Mutter und seinen Nächsten schreibt Bleicher aus der Haft, so häufig er kann – mit gleichbleibender Intensität, keinen Geburtstag auslassend: „Heute, muss ich zum siebten Mal dasselbe wiederholen, nur mit dem großen Unterschied, dass ich sieben Mal herzlicher und inniger Dir gratulieren und alles Gute wünsche! Fürwahr, in all diesen Jahren, da habe ich so recht erfahren, wer meine Muttel ist!“ Nach seiner Befreiung sah er sie endlich wieder.
„Wir alle sind Kinder unserer Zeit“
Auffallend ist der immer mutmachende Ton in Bleichers Briefen. Das eigene Schicksal beklagt er nie. Besorgt ist er hingegen um das Wohlergehen der Familie: „In Gedanken seh ich den Luftangriff auf Stuttgart“, schreibt er im März 1944 aus der Haft in Buchenwald: „Freilich, der vorletzte ist für euch gut vorübergegangen, aber der letzte? Um diese Frage kreisen alle meine Gedanken und verdichten sich immer wieder nur zu dem einen Wunsch: möge auch er eurerseits gut überstanden sein.“
Etliches von dem, was Bleicher damals notierte, hat zeitlosen Charakter. Kurz nach seiner Verhaftung 1936 reflektierte der 29-Jährige über „die Handlungen und Wandlungen der letzten 30 Jahre auf politischem und sozialem Gebiet“. Er schrieb dazu: „Wer wollte behaupten, dass dieselben spurlos an dem einzelnen vorübergingen. Fürwahr, wir alle sind Kinder unserer Zeit, blass oder strahlend wie sie.“
Buchvorstellung Das von Hermann G. Abmayr herausgegebene Buch „Texte eines Widerständigen“ ist im Stuttgarter Schmetterling-Verlag erschienen (ISBN: 978-3-89657-193-9, 480 Seiten, 24,80 Euro). Abmayr stellt es am 8. Mai um 19 Uhr im nach Bleicher benannten Gewerkschaftshaus in der Willi-Bleicher-Straße 20 vor.
Buch „Texte eines Widerständigen“
Buchvorstellung
Das von Hermann G. Abmayr herausgegebene Buch „Texte eines Widerständigen“ ist im Stuttgarter Schmetterling-Verlag erschienenen (ISBN: 978-3-89657-193-9). Es hat 480 Seiten und kostet 24,80 Euro. Abmayr stellt es am 8. Mai um 19 Uhr in dem nach Willi Bleicher benannten Gewerkschaftshaus in der Willi-Bleicher-Straße 20 vor.