Daniel Kessler hat innerhalb von gut 15 Jahren mehrere Hunderttausend Euro verzockt. Das Geld beschaffte er sich mit Betrügereien im Internet. Heute ist er geläutert – seine Haftstrafe endet frühestens im Sommer, aber er arbeitet wieder im Rettungsdienst. Foto: privat

Ein Familienvater aus Remseck (Kreis Ludwigsburg) vertuscht seine Spielsucht jahrelang, bis die Handschellen klicken. Rückblickend ist seine Haft ein Segen: „Sonst wäre ich nicht rausgekommen.“

Wenn Daniel Kessler heute zufällig an einem Wettbüro vorbeigeht, dann meldet sich bisweilen sein Gewissen. Wie er sich dann fühlt, was er denkt? Kessler fällt nur der Kraftausdruck mit „Sch...“ ein. Dass er ein bisschen wütend wird, sich vielleicht auch schämt – verwunderlich ist das nicht. Denn die „Büros“, die eigentlich nur Aufenthaltsräume mit Tresen und Bildschirmen sind, bestimmten jahrelang das Leben des 34-Jährigen. Außer Kessler selbst wusste niemand davon.

 

Kessler war süchtig. Süchtig nach Einsätzen und Gewinnen – ersteres überwog natürlich bei weitem. „Ich habe allen eine heile Welt vorgespielt – und irgendwie hat das auch geklappt“, sagt er. Zumindest solange, bis das Gebilde aus Lügen und Betrügereien zusammenbrach. Da hatte Kessler etwa eine halbe Million Euro verzockt, vielleicht auch mehr, so genau überblickte er das nicht mehr – und die Polizei stand vor seiner Tür. Im Grunde war das seine Rettung.

Angefangen hatte alles wie bei vielen, die sich für Fußball interessieren. Eigentlich harmlos. Mit einer Tipprunde im Büro, bei der jeder fünf Euro in einen Pott einzahlt. Kessler ist damals gerade einmal 17 und Auszubildender bei der Bahn. Schnell werden die Einsätze größer: 50 Euro pro Woche, dann 100, dann noch mehr. Zum Schluss setzt Kessler immer mindestens 500 Euro. Manchmal gewinnt er, meistens verliert er. Als er einmal richtig tippt und 2000 Euro erhält, setzt er das Geld direkt wieder. Dass in der Nähe seiner Wohnung ein Wettbüro, das mit fetten Gewinnen lockt, eröffnet, verschärfte das Problem. Auch die Möglichkeiten, online Einsätze zu tätigen, nutzte der Mann, der in Remseck aufgewachsen ist und dann auch lange gewohnt hat, rege.

Kessler bestellt im Internet Waren und verkauft diese weiter

Kessler tippte, als er schon tief drin steckt im Wettsumpf, weiterhin vor allem auf Fußball – manchmal auch auf Tennispartien, selten auf Handballspiele. Mit Strategie oder irgendeinem Plan hatte das längst nichts mehr zu tun. Der heute 34-Jährige platzierte Wetten auf Spiele in Afrika und Südamerika, „auf Mannschaften, von denen niemand eine Ahnung hat bei uns – ich auch nicht.“ Im Grunde war es ihm egal, Hauptsache, es kam ein Wettschein zusammen. „Es ist alles völlig aus dem Ruder gelaufen“, gesteht sich Kessler heute ein. Eine späte Erkenntnis.

Um seine Sucht zu finanzieren, ersinnt Kessler eine ziemlich plumpe Methode. Er ordert im Netz hochwertige Waren – oft Elektronikartikel –, die er nicht bezahlt und direkt weiterverkauft, meist unter dem eigentlich Wert. „Wichtig war nur, ich hatte wieder Geld zum Spielen.“ Teils bietet er Gegenstände auf der Onlineplattform Ebay gegen Vorkasse an, die er dann einfach nicht liefert. Am Ende prellt er so mehr als 300 Menschen – vor allem Unternehmen.

Vom Jahr 2012 an muss sich Kessler regelmäßig vor dem Ludwigsburger Amtsgericht verantworten, mehrmals wird er verurteilt. Die Strafen werden aber immer zur Bewährung ausgesetzt, ins Gefängnis muss er nicht. Noch nicht. „Mich hat das überhaupt nicht beeindruckt, ich habe einfach weitergemacht“, erinnert sich Kessler, der Privatinsolvenz angemeldet hat. Die Schulden muss er noch einige Jahre lang zurückzahlen.

Für die Miete und das Leben der Familie reicht das Geld immer gerade so. Also zockt der Vater einer Tochter einfach weiter, selbst auf der Anklagebank hat er noch Wetten laufen, erinnert er sich. Seinem Anwalt oder seinem Bewährungshelfer erzählt er nichts von seinen Problemen. Warum auch? Daniel Kessler hofft, irgendwann einen so großen Gewinn einzufahren, dass er seine Schulden tilgen kann. „Heute weiß ich, es gewinnt immer nur der Wettanbieter“, sagt Kessler.

Warum wird man süchtig nach Wetten?

Als Gläubiger vor seiner Tür stehen, schaltet Kessler die Klingel ab, damit seine Frau nichts spitz bekommt. Selbst ihr gaukelt er etwas vor. Und warum merkt niemand etwas? Im Job und bei der Freiwilligen Feuerwehr, wo Kessler tätig ist, auch nicht. „Ein Süchtiger tut alles dafür, dass niemand etwas von der Sucht merkt“, sagt Kessler, „leider hat das bei mir ganz gut funktioniert.“ Am 23. Januar 2020 schließlich ist das Spiel dann aus. Die Handschellen klicken, Kessler kommt ins Gefängnis – und auch nicht mehr raus. Zweieinhalb Jahre Haft wegen Betrugs, lautet das Urteil. Kessler weiß: er hat es verdient. Fast wirkt er im Nachhinein erleichtert darüber: Denn anderenfalls hätte ihn seine Sucht vielleicht vollends zugrunde gerichtet. „Ich habe viel kaputt gemacht.“

Die Kindergartenzeit seiner Tochter, die im Herbst in die Grundschule kommt, hat Kessler durch die Haft mehr oder weniger verpasst. Seinen Job in der Integrierten Leitstelle in Ludwigsburg verliert der Rettungssanitäter kurz nach seinem Haftantritt. Er wendet sich an eine Suchthelferin, besucht regelmäßig Angebote der Caritas. Eine „richtige“ Therapie kann er erst machen, wenn er wieder entlassen wird. Bei Glücksspielsüchtigen ist das während der Zeit im Gefängnis nicht vorgesehen.

Die Coronazeit nagt an Kessler, weil er seine Familie nicht mehr sehen kann. Mittlerweile darf der 34-Jährige wieder raus, seit vergangenem Mai ist er Freigänger. Während der Zeit im Gefängnis in Ulm hat er einen Lehrgang zum Feuerwehrzugführer gemacht. In Ulm ist er für den Rettungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes in der Leitstelle tätig. „Ich bin beruflich quasi wieder auf Stand“, sagt Kessler, „und sehr dankbar, dass man mir die Chance gibt.“

Und privat? Seine Frau habe ihm verziehen, auch mit den Schwiegereltern sei das Verhältnis gut. „Da kann ich mich wirklich glücklich schätzen. Selbstverständlich ist das nicht.“

Warum er abgeglitten ist in die Sucht, auch diese Frage hat sich Daniel Kessler während der Haft häufig gestellt. Eine endgültige Antwort hat er (noch) nicht gefunden. „Ich bin eigentlich so veranlagt, dass ich Menschen helfen, nicht schaden will“, sagt Kessler. Deshalb habe er sich auch seit seiner Jugend bei der Feuerwehr engagiert und dann die Ausbildung zum Rettungssanitäter gemacht. Leicht hatte es Kessler als Kind gleichwohl nicht, die Mutter ist alkoholkrank, er wächst vor allem bei den Großeltern auf. Sein Vater stirbt relativ früh, anschließend spielt er exzessiver. „Das könnte schon eine Rolle gespielt haben“, sagt er, „aber deshalb kann ich mich nicht von einer Schuld freisprechen.“

Kessler will anderen als mahnendes Beispiel dienen

Ein Gutachter bescheinigt ihm eine „mittelschwere“ Spielsucht, für Außenstehende ist pathologisches Spielen dennoch schwer zu begreifen. „Die Richterin hat zu mir gesagt: Wie man süchtig nach Wetten werde, könne sie nicht verstehen“, sagt Kessler. Seine Erfahrungen will er nutzen, um zu helfen, auch auf Missstände aufmerksam zu machen. Die Politik habe mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag die richtige Richtung eingeschlagen, findet Kessler. „Aber so lange der Staat an den Wetten verdient, wird das Problem verharmlost.“

Er selbst kann keine Einsätze mehr tätigen, er hat sich für Sportwetten und andere Glücksspiele sperren lassen. Auch das Interesse am Fußball habe Kessler, der auch schon eine Dauerkarte beim VfB Stuttgart besessen hat, komplett verloren. „Ich will mich künftig für Präventionsangebote engagieren“, sagt Kessler. Dabei hat er beispielsweise Schulen im Blick. Außerdem ist er mit dem ehemaligen Sportmoderator Werner Hansch, der selbst jahrelang notorisch gespielt und die Sucht vor nicht allzu langer Zeit öffentlich gemacht hat, in Kontakt. Beide sind einem Bündnis gegen Werbung für Sportwetten beigetreten.

Auf seinem Weg zur Arbeit in Ulm geht Daniel Kessler regelmäßig an einem Wettbüro vorbei. Dann wirft er einen Blick nach drinnen. Besonders wenn dort junge Männer sitzen, erschreckt ihn das, weil er sich dann an sich selbst erinnert. „Ich denke immer: hoffentlich passiert denen nicht das gleich wie mir.“ Menschen, die das Gefühl haben, dass sie ein Problem mit der Zockerei haben, rät er, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Selbst hat Kessler das nicht geschafft. Deshalb weiß er, wie schwierig das ist.

Wo bekommen Betroffene Hilfe?

Buch
 Daniel Kessler hat ein Buch über seine Sucht und sein Leben im Gefängnis geschrieben. „Game Over 23.01.2020: Wetten, Knast & Covid 19“ ist im Selbstverlag erschienen. Es ist über das Internet, beispielsweise über Amazon und andere Plattformen erhältlich. Die ISBN-10 lautet : ‎ 3985272913

Spielsucht
 Menschen, die selbst Probleme mit dem Spielen haben oder sich Sorgen um Bekannte oder Angehörige machen, können sich an das Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wenden. Die Experten sind täglich unter der Nummer 0800/137 27 00 kostenfrei und anonym erreichbar. Weitere Informationen zum Thema Sucht sowie einen Selbsttest gibt es im Netz unter: www.check-dein-spiel.de.