Seit den 1990ern steht die Rote Schleife weltweit für Solidarität mit Menschen mit HIV und an Aids erkrankten Menschen. Foto: Dedert/dpa

600 Tote, unzählige Schicksale: Die Aids-Hilfe Stuttgart, vor 40 Jahren gegründet, schreibt Stadtgeschichte – mit Herz, Haltung und Solidarität. Ein Rückblick zum Jubiläum.

Am 5. Juni 1981 berichtet das US-Gesundheitsamt von fünf jungen Männern, die an einer rätselhaften Lungenentzündung leiden. Niemand ahnt, dass dies der Auftakt zu einer weltweiten Epidemie sein wird. Bald schon löst die zuvor unbekannte Krankheit Ängste, Verunsicherung und tief sitzende Vorurteile, auch in Deutschland, aus. In Stuttgart erscheint im April 1983 ein Faltblatt der Szene-Zeitung „Schwulst“, das sich mit der angeblichen „Schwulenseuche“ befasst. Besonders betroffen seien „homosexuelle Männer mit vielen Sexualpartnern“. In der Schwulen-Disco Kings Club, so schreibt die Stuttgarter Zeitung, wird Aids damals drastisch buchstabiert: „Ab in den Sarg“.

 

Im Oktober 1984 lädt Thomas Ott, Betreiber des Schwulen-Buchladens Erlkönig, etwa 25 Personen ins Liberale Zentrum ein. „Damals war das Ausmaß der Aids-Krise noch nicht klar“, wird sich Ott später erinnern, „aber wir konnten spüren, wie Boulevard-Blätter Aids nutzten, um schwules Leben zu diffamieren.“ Die Krankheit diente als Vorwand für Hass und Ausgrenzung.

Bei der Schillerplatz-Hocketse im Jahr 1992 war die Aids-Hilfe mit einem Stand vertreten. Foto: Rainbow

Gründung der Aids-Hilfe Stuttgart: Ein Meilenstein vor 40 Jahren

Am 13. Februar 1985 wird in den Räumen des Erlkönigs die Aids-Hilfe Stuttgart gegründet – eine der ersten ihrer Art in Baden-Württemberg. Eines der ersten Projekte ist ein Beratungstelefon im Café der Drogenberatungsstelle Release. Im November 1985 konstituiert sich der Verein der Aids-Hilfe. Dies ist nun genau 40 Jahre her.

Aus diesem Anlass gibt es am Mittwoch, 5. November, 19 Uhr, einen Empfang im Stuttgarter Rathaus. Der Schwulenchor Rosa Note wird auftreten. Erstmals gezeigt wird ein Kurzfilm über die Aids-Krise der 1980er- und 1990er-Jahre in Stuttgart – eine Zeit, in der es noch keine wirksamen Medikamente gegen HIV gab. Produziert wurde der Film von der Arbeitsgemeinschaft Queere Erinnerungskultur „Der Liebe wegen“ des Vereins Weissenburg. Im Großraum Stuttgart, teilt die Initiative mit, verloren damals rund 600 Menschen ihr Leben an den Folgen von Aids – ein Kapitel Stuttgarter Stadtgeschichte, das bis heute nachwirkt.

Trauer und Unwissenheit: Die ersten Jahre der Aids-Krise in Stuttgart

Schmerzvolle Erinnerungen werden wach. Die Community stürzt von einer Trauer in die nächste. Cliquen wurden dezimiert. Die Telefonanrufe der Anfangszeit spiegeln die tiefe Verunsicherung wider: Viele Menschen fürchten, infiziert zu sein, ohne die Übertragungswege zu kennen. Die Aids-Hilfe klärt auf: Ein Kuss oder ein Schwimmbadbesuch reiche nicht für eine Ansteckung.

Kurz darauf entsteht ein Safer-Sex-Gesprächskreis für schwule Männer. Ein Teilnehmer erinnert sich später: „Wir, acht Männer, trafen uns privat in Wohnungen. Einige hatten Angst, infiziert zu sein, drei waren positiv – einer gerade 20. Nach dem ersten Abend schlief ich kaum.“

Nur wenige Meter vom Erlkönig entfernt befand sich das erste Schwulencafé Stuttgarts, das Jenseitz, eröffnet 1983 von Kurt Klauser. Anfangs stießen solche Orte auf Widerstand, doch sie wurden zu Treffpunkten für eine lange verborgene Gemeinschaft.

„Raus aus dem Ghetto – Rein in die Stadt“: Sichtbarkeit im Jahr 1992

Ein besonderes Zeichen setzt die erste Schillerplatz-Hocketse 1992. Die Stuttgarter Nachrichten titeln: „Raus aus dem Ghetto – Rein in die Stadt.“ Der Schwulenchor Rosa Note hat dort einen ihrer ersten öffentlichen Auftritte – ein Moment der Sichtbarkeit in einer Zeit, in der viele ihre Freunde und Partner an Aids verloren haben.

Straßenfest auf der Lautenschlagerstraße im Jahr 1990. Auf dem Transparent am Stand der Aids-Hilfe steht: „Es gibt ein Leben mit dem Tod.“ Foto: Steinert

Viele der Infizierten schämten sich, dass sie HIV hatten, und wollten nicht in ihrer Heimat sterben. Sie reisten in andere Städte, etwa nach Berlin, um ihre Krankheit vor Freunden und Familie zu verbergen. Die Stuttgarter Zeitung berichtete damals über den „Sterbetourismus“.

Martin Reichert beschreibt die Zeit als traumatisierend: „Für jüngere Schwule um die zwanzig ist Aids ungefähr so weit weg wie der Zweite Weltkrieg. (…) Doch für mindestens eine Generation schwuler Männer waren die achtziger und frühen neunziger Jahre eine Zeit, die schwere Traumatisierungen hinterlassen hat.“

HIV in Stuttgart: Fortschritte und anhaltendes Stigma

Es war ein weiter Weg, bis Menschen mit HIV ein nahezu normales Leben führen konnten, ein Weg voller Leid, Schmerz und Trauer. Heute sind Infizierte unter Therapie nicht mehr infektiös. Dennoch bleibt das Stigma oftmals bestehen. Etwa 3000 Langzeitpositive leben im Großraum Stuttgart, schätzt Bernd Skobowsky, Geschäftsführer der Aids-Hilfe.

Die Arbeit des Vereins hat sich im Zeichen der Roten Schleife über die Jahre professionalisiert. Anfangs lagen Beratung, Selbsthilfe und Aufklärung im Fokus. In den 1990er-Jahren rückten psychosoziale Beratung und Prävention in den Vordergrund. In den 2000er- und 2010er-Jahren wurden neue Zielgruppen einbezogen, darunter Frauen, Heterosexuelle und Geflüchtete. Heute bietet die Organisation unter anderem Schnelltests für HIV, Syphilis und Hepatitis C, Bildungsarbeit in Schulen und Betrieben sowie Präventionsprojekte in Clubs an. Ihr Leitsatz lautet: „Leben mit HIV ist möglich – Diskriminierung nicht.“

„Vom Tabu zur Solidarität“: 40 Jahre Aids-Hilfe Stuttgart

40 Jahre Aids-Hilfe Stuttgart stehen für Engagement gegen Angst, Ausgrenzung und Unwissenheit, Akzeptanz und den Stolz auf Diversität. Vom Tabu zur Solidarität: Die Organisation ist heute eine wichtige Stimme für Aufklärung, Teilhabe und gesellschaftliche Verantwortung. „Wir feiern auch für jene, die nicht mehr dabei sein können – vielleicht schauen sie von einer Wolke aus zu“, sagt ein Mitglied der Aids-Hilfe.

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