Die Städtische Polizeibehörde verfolgt bei einem Einsatz spätabends Männer durch den Wald am Stuttgarter Fernsehturm, nachdem Beamte sie beim Sex erwischen. Hat das Pärchen etwas falsch gemacht – oder ist der Einsatz aus dem Ruder gelaufen?
Ein Abend Anfang August am Stuttgarter Fernsehturm, die Sonne ist hinter dem Horizont verschwunden, ein wenig Restlicht dringt noch vom Himmel durch. Einige Männer wandern auf den Wegen im Wäldchen hinter dem Fernsehturm umher, sie cruisen, das Ziel ist es, jemanden zu finden, der auch Sex haben will. Das passiert schon seit Jahrzehnten so und ist nicht grundsätzlich verboten. Auch Tom ist dort, er hat gerade jemanden kennengelernt. Plötzlich gehen etwa zehn Meter von Tom entfernt Taschenlampen an, sie gehören Beamten des Städtischen Vollzugsdienst, Stuttgarts Polizeibehörde. Ein Lichtkegel richtet sich auf zwei Männer, sie haben gerade Sex, das geht auch aus dem Einsatzbericht hervor. Die Männer laufen los, dem Bericht zufolge zumindest ein Beamter hinterher.
Auch mehrere Menschen, die im direkten Umfeld cruisen, schrecken nun auf, hetzen los. Der Boden ist nass, mindestens einer stürzt, so beschreiben es Tom und auch Mirko (beide Namen geändert), der an dem Abend ebenfalls vor Ort war. Mehrere Minuten dauern die chaotischen Szenen. Tom sagt, dass damit gedroht worden sei, Hunde loszulassen. „Die haben die Leute gejagt wie irgendwelche Tiere“, sagt Tom.
Was steckt hinter dem Einsatz?
Es stellt sich die Frage: Warum macht das die städtische Behörde? Und das nur eine Woche nachdem erstmals Oberbürgermeister Frank Nopper beim Christopher Street Day in Stuttgart auf einem Wagen mitfuhr, die Stadt damit durch ihren obersten Repräsentanten auf der Kundgebung für queere Rechte dabei war („queer“ ist eine Bezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind). Ist hier ein Einsatz einfach etwas strenger geraten als geplant? Oder will man Druck auf die cruisenden Menschen in dem Gebiet machen?
Ein Teil der queeren Szene trifft sich schon seit Jahrzehnten hinterm Fernsehturm. Männer laufen dort auf Pfaden abseits der Waldwege umher, und wenn sie sich gefallen, sprechen sie einander an, um Sex zu haben. Cruising heißt das – und die Cruising-Area am Fernsehturm gehört zur queeren DNA Stuttgarts. Was in dem Wald von Höhe Parkplatz bis zum Waldhotel passiert, ist nicht verboten, solange man kein öffentliches Ärgernis erregt, also nicht gesehen wird. Auch Stadt und Polizei wissen längst, was dort geschieht. Die Stadt begründet den Einsatz am 3. August damit, dass es zuvor Beschwerden gegeben habe. Dabei geht es meist um sichtbare sexuelle Handlungen oder zurückgelassenen Müll, das hatte auch in der Vergangenheit immer wieder mal für Aufregung gesorgt. Auf zwei bei der Stadt eingegangene Beschwerden, so die bestätigte Zahl, fallen 20 Kontrollen im Jahr 2024, auf sieben Beschwerden 2023 kommen 23 Kontrollen. Zusätzlich seien Beschwerden beim Bezirksamt Degerloch eingegangen und das Thema im dortigen Bezirksbeirat thematisiert worden, heißt es von der Stadt.
Rechtsexperte: Es ging wohl um „Flagge zeigen“
Eine rechtliche Grundlage nennt die Stadt nicht für den Einsatz. Von der hänge aber ab, wie Geschehnisse einzuordnen seien, sagt Clemens Arzt. Er war bis 2023 Professor für Polizeirecht am Fachbereich Polizei der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Ihm scheine, zumindest in Bezug auf eine mögliche „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ nach § 183a StGB, „dass es hier nicht um eine Strafverfolgung ging, sondern eher um staatliches ‚Flagge zeigen’, um Beschwerden im Allgemeinen nachzukommen“, meint Clemens Arzt. „Ob in concreto hier der Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses erfüllt wäre, erscheint eher zweifelhaft“, sagt Arzt.
Die Betroffenen, also die Menschen in der Cruising-Area, seien „von ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit und unter Umständen auch dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz) geschützt. Eine Maßnahme wie in Stuttgart greift in diese Grundrechte ein“, so Arzt weiter. Das ist nur unter den Voraussetzungen des Polizeirechts zulässig oder zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, die hier offenbar nicht erfolgt sei.
Auch Beamte in zivil kontrollierten am Fernsehturm
Meist werde bei den Kontrollen von den Hauptwegen aus ins Gebüsch geleuchtet, damit die Leute verschwinden, erzählt Tom. Immer wieder war der Städtische Vollzugsdienst wohl auch mit Beamten in Zivil vor Ort, wie aus einem Schriftverkehr hervorgeht, der unserer Redaktion vorliegt.
Dazu habe die Stadt im vergangenen Winter das Gebüsch und Geäst rund um die Cruising-Area ausgedünnt, sagt Mirko. Das bedeutet: Weniger Sichtschutz und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sexuelle Handlungen sichtbar sind und sich Passanten beschweren. Die Stadt äußert sich auf Nachfrage weder zur Abholzung noch zum Einsatz der Beamten in Zivil.
Aids-Hilfe: Gute Zusammenarbeit mit Polizei
Indes sagt Bernd Skobowsky von der Stuttgarter Aids-Hilfe, dass sich das Cruising in Richtung Innenstadt verlagere. Das sei eine allgemeine Feststellung, einen Zusammenhang mit den Einsätzen am Fernsehturm könne man nicht herstellen. Prinzipiell, sagt Skoboswky, „ist die Zusammenarbeit mit der Polizei wirklich gut.“ Wenn es Ärger aus der Community nach einem Einsatz gebe, finde man schnell ins Gespräch, und das auf Augenhöhe. Jemand anderes von einem der queeren Vereine in Stuttgart sagt vor dem Hintergrund des Einsatzes am 3. August dagegen: „Es gibt ein großes Defizit bei der Polizei, wie man sich gegenüber marginalisierten Gruppen verhält.“
Queere Menschen und Polizei – das ist oft schwierig
Oft äußern queere Menschen, etwa auch Mirko, ein gewisses Misstrauen gegenüber der Polizei. Das hat auch historische Gründe. Bis 1969 wurden Menschen in Deutschland durch den Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, behördlich verfolgt. Erst 1994 wurde der Paragraf gestrichen. Ein anderes markantes Ereignis war eine Razzia der Polizei in der Christopher Street in New York 1969 in der Homosexuellen-Bar Stonewall Inn. Es folgten tagelange Proteste, gegen die die Polizei wiederum rigide vorging. Das Ereignis legte den Grundstein für den Christopher Street Day.
In Stuttgart war man eigentlich schon weiter. 2021 hatten sich Stadt, Landespolizei und queere Organisationen bei einem Runden Tisch auf einen Umgang mit der Cruising-Area geeinigt, auf einem Flyer sind Regeln festgehalten. Die Kurzform: Cruisen ist okay, solange man Abstand zu Unbeteiligten hält und keinen Müll zurück lässt. Regelmäßige Streifen der Polizei sollen dafür sorgen, dass vor Ort die Regeln eingehalten werden, aber auch, dass die Menschen sich dort sicher fühlen. Skobowsky von der Aids-Hilfe sieht in dem Runden Tisch ein wichtiges Instrument zur gegenseitigen Verständigung, das man auch nun wieder anstrebe.
Stadt: Sind uns der Bedeutung des Ortes bewusst
Mirko sieht in dem Vorgehen einen Versuch der Stadt, die Leute zu vertreiben, die am Fernsehturm nach Sex suchen. Er sagt aber auch: „Ich werde mir das nicht wegnehmen lassen.“ Es gehe ihm darum, ein Zeichen zu setzen – in einer Zeit, in der die Übergriffe auf queere Menschen mehr werden, in der sich viele homosexuelle Paare nicht trauen, öffentlich Händchen zu halten. Es sei ein Ort, der queeren Menschen zugeteilt und toleriert sei, den wolle man auch behalten. Mirko stellt sich auch die Frage, was aus der Cruising-Area wird, sollte der Fernsehturm wie geplant zum Weltkulturerbe werden.
Die Stadt äußert sich dazu nicht konkret. Was die Stadt mitteilt: „Wir sind uns bewusst, welche Bedeutung dieser Ort in der Szene hat. Um die Interessen auszugleichen, kontrollieren und informieren wir. Wir werden dieser Tage intern besprechen, wie wir weiterhin den Interessen Aller an diesem für Stuttgart wichtigen Ort gerecht werden können“, heißt es. Das kann man als Versprechen sehen, dass es die Cruising-Area weiter geben soll.
Was bedeutet Cruising?
Ablauf
Beim Cruising am Fernsehturm laufen die Menschen auf Pfaden abseits der Spazierwege herum, sie nehmen Blickkontakt auf, wenn man sich gefällt, spricht man sich an. So erklärt es Mirko, der die Gegend seit vielen Jahren kennt. An guten Tagen seien 60 bis 70 Leute unterwegs, sagt Mirko, mitunter auch bisexuelle, trans oder heterosexuelle Menschen. Es komme zu weniger Sex als man sich das gemeinhin vorstelle, so Mirko weiter. Oft gehe man wieder nach Hause, ohne dass etwas passiert sei.
Bedeutung
Die Cruising-Gebiete seien zwar für manche nur ein Reiz, heißt es aus der queeren Community. Andere dagegen seien darauf angewiesen, weil sie sich in ihren sozialen Umfeld nicht outen und deshalb ihre Sexualität auf keine andere Art ausleben könnten. Zum Beispiel: Menschen aus streng religiösem Umfeld, wo Homosexualität nicht toleriert wird und sie deshalb geheim gehalten werden muss.