Trauernde haben ein Bild des ermordeten Polizisten Rouven Laur auf dem Mannheimer Marktplatz aufgehängt und Blumen zum Gedenken niedergelegt. Foto: dpa/Uwe Anspach

Unter Tränen berichtet der Chefermittler des Landeskriminalamtes über die Ermittlungen zum Mord an dem Mannheimer Polizisten Rouven Laur: Seit Ende 2022 habe sich der angeklagte Sulaiman A. für einen radikalisierten Islam interessiert – und mögliche Spuren systematisch verschleiert.

Dem Chefermittler schießen 286 Tage nach der Bluttat die Tränen in die Augen: „Der Tod des Kollegen belastet, er belastet immer noch“, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar Henrik S. mit leiser Stimme. Fünf Meter sitzt er als Zeuge vor Herbert Anderer, dem Vorsitzenden des 5. Strafsenats des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Als sogenannter Hauptsachbearbeiter soll der Polizist sagen, was seit dem 31. Mai vergangenen Jahres geschehen ist, seit dieser Bluttat auf dem Mannheimer Marktplatz.

 

Millionen Menschen haben die Tat vor Augen, weil sie die Videos angeschaut haben, die veröffentlicht wurden: Ein Bärtiger mit Brille sticht unvermittelt auf Menschen ein, die einen Informationsstand aufgebaut haben. Polizisten eilen herbei, die helfen wollen. Einer von ihnen, Rouven Laur, beugt sich über einen am Boden Liegenden, der Mann mit dem Bart sticht auch nach ihm, ein anderer Polizist schießt den Angreifer nieder. Drei Tage später verstirbt Laur in einem Mannheimer Krankenhaus.

Angeklagter suchte online Kontakt zu extremistischen Predigern

„Ich hatte an diesem Tag frei. Irgendwie hatte ich mitbekommen, dass da in Mannheim etwas passiert war. Mein Chef rief mich an und fragte, ob ich arbeiten könnte“, erinnert sich Ermittler S.. Der eilte von Stuttgart auf den Mannheimer Marktplatz, ist seitdem vertraut mit dem Fall, wie kaum ein anderer. Nüchtern zählt er die Fakten auf, die die Kriminalen recherchierten: Wie sich Sulaiman A. ab November, Dezember 2022 zunehmend für einen radikalisierten Islam interessierte. Digitalen Kontakt zu extremistischen Predigern gesucht habe – bis er schließlich im April 2024 Kontakt zu einem bekam, der ihm die Sichtweisen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ nahe gebracht habe: Zunächst an zwei Apriltagen dessen Predigten konsumierte, schließlich, am 20. April, in den virtuellen Austausch mit dem Gelehrten trat.

„A. war zu diesem Zeitpunkt entschlossen, eine Gewalttat zu begehen. Das wollte er aber von einem Schriftgelehrten bestätigt bekommen“, bewertet ein Islamwissenschaftler des Bundeskriminalamtes (BKA) den Austausch, den die Ermittler rekonstruieren konnten. Allerdings: Wer sich hinter dem als „OR“ abgespeicherten Mann verbirgt, konnten die Kriminalisten bis heute nicht herausfinden. Fest steht aber für sie: Der als Scheich Angesprochene brachte Sulaiman A. nicht nur die Ideologie des IS nahe, sondern sandte ihm auch Propagandaschriften der Terroristen zu.

Ein ominöser Gelehrter des IS motiviert Sulaiman A. zur Bluttat

„Mach die Gegend zu einem Gaza“, habe OR in Anspielung auf das Sterben in Palästina nach deren Anschlag auf Israel 2023 den mutmaßlichen Mannheimer Attentäter angewiesen: „Wenn Du sie nicht erwischst, dann spucke ihnen wenigstens ins Gesicht.“ Sulaiman A. habe reagiert. Habe dem Gelehrten zu verstehen gegeben, dass er zur Tat entschlossen sei: „Ihr habt mich sehr froh gemacht, verehrter Lehrer“, schreibt er. Und wenig später: „Ihr habt hoffentlich verstanden, was ich gesagt habe, mein Lehrer.“

Dass A. im Frühjahr 2024 hochgradig radikalisiert gewesen sei, macht der Wissenschaftler auch an einem anderen Punkt fest. Er habe in einem anderen Chat 20 Gelehrte des Islam aufgeführt, deren Weg in die Hölle führe. Unter ihnen habe er auch Yusuf al-Qaradawi aufgeführt. Der 2022 in Katar verstorbene, 96 Jahre alte Rechtsgelehrte gilt Islamwissenschaftlern als einer der gefährlichsten Einpeitscher, der Islamismus und islamisch motivierten Terrorismus förderte. Der Muslimbruder setzte sich für den Aufbau eines islamischen Staates ein, sprach sich für Selbstmordattentate im Kampf gegen Israel aus und glorifizierte den Holocaust, den er nicht nur als „Allahs Weise der verheerenden Rache“ an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus sah, sondern als künftigen Kampf der Muslime gegen Juden.

Systematisch die Spuren schon vor der Tat verschleiert

Al-Qaradawi sei für Sulaiman A. zu gemäßigt gewesen. Der, so sagt Ermittler S. aus, habe „bereits vor der Tat sehr viele Spuren verschleiert“: Er tauschte das Handy, das er gewöhnlich nutzte, wohl am Morgen des 31. Mai gegen ein wenig gebrauchtes aus. Dieses alte Telefon fanden die Ermittler nicht. Ebenso wenig die in das neue eingesetzte SIM-Karte des alten Handys. Diese soll A. kurz vor der Tat entnommen haben. „So fehlen uns die Informationen, die möglicherweise im Arbeitsspeicher des Telefons gespeichert waren“, sagt S.

Bevor Sulaiman A. zugestochen haben soll, habe er versucht, sein Konto beim Kurznachrichtendienst Telegram zu löschen. Das sei fehlgeschlagen, sodass die Kommunikation mit den islamischen Gelehrten rekonstruiert werden konnte. Sein Konto beim Suchmaschinenanbieter Google sei nach der Tat „von einem Dritten gelöscht worden“. Offenbar über den Wlan-Zugang im Haus des Schwiegervaters, wo A.s Ehefrau lebt. Aber, fasst Richter Anderer zusammen: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Angeklagte direkt mit einem Vertreter des IS in Verbindung stand.“ Der Ermittler nickt stumm.

Mit jedem Tag gehe es ihm ein wenig besser, hatte er mit tränenschwerer Stimme gesagt. Und dabei auf den Tisch gestarrt.