Die Kassenärztliche Vereinigung baut ab – und ignoriert die Folgen. Warum die Notaufnahme der Rems-Murr-Klinik in Winnenden überläuft und die Politik in Berlin jetzt handeln muss.
Es ist eine Entwicklung mit Ansage – und mit Wucht. Seit Oktober 2023 ist die Notfallpraxis in Schorndorf geschlossen, Ende Juni folgt das Aus in Backnang. Übrig bleibt dann eine einzige Bereitschaftspraxis der niedergelassenen Ärzte im ganzen Rems-Murr-Kreis – angedockt an das Krankenhaus in Winnenden. Mehr als 430 000 Menschen sollen sich künftig dort außerhalb der normalen Dienstzeiten medizinisch versorgen lassen. Was das für die Kliniken bedeutet, lässt sich in Zahlen messen.
„Die Realität ist eindeutig: Unsere Notaufnahmen verzeichnen einen massiven Zulauf“, sagt der Landrat Richard Sigel. Gemeinsam mit dem Klinikgeschäftsführer André Mertel widerspricht er der Darstellung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), es gebe „keine dauerhafte Mehrbelastung“ für die Notaufnahmen. Eine Aussage, die sich für Sigel wie Hohn anhört: „Seit der Schließung der Praxis in Schorndorf haben wir in unseren Klinik-Notaufnahmen 8136 Menschen mehr behandelt als im Vorjahr.“
Mehr Patienten, mehr Stress, mehr Defizit
Allein in der Notaufnahme in Winnenden wurden im Jahr 2024 fast 7000 Fälle mehr registriert als 2023 – ein Anstieg um rund 14 Prozent. Auch Schorndorf verzeichnet einen Zuwachs. Die Folgen: lange Wartezeiten, überlastetes Personal, steigende Kosten.
Dass die KVBW trotz dieser Entwicklung die nächste Schließung in Backnang durchzieht, löst Empörung aus – nicht nur in der Klinikleitung. 18 Rathauschefs, darunter Backnangs OB Maximilian Friedrich, appellierten jüngst noch einmal in einem offenen Brief an den Gesundheitsminister Manfred Lucha, die Reform des Bereitschaftsdienstes zu stoppen. Vergeblich. Die Reformmaschine rollt weiter.
Die Klinik als Lückenbüßer
Was bleibt, ist eine Notfallversorgung, die ihren Namen kaum noch verdient. „Die Kliniken übernehmen Aufgaben, für die sie gar nicht vorgesehen sind“, so Sigel. Wer sich am Wochenende beim Wandern verletzt oder nachts mit Fieber aufwacht, landet zunehmend in der Notaufnahme – obwohl medizinisch gesehen oft keine stationäre Versorgung nötig wäre. Der Rückzug der KV trifft damit nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch das System.
„Es fehlt schlicht eine funktionierende ambulante Notfallstruktur“, sagt Geschäftsführer Mertel. Und ergänzt bitter: „Dass die KV ausgerechnet in einem Landkreis mit über 430 000 Einwohnern solche Strukturen abbaut, ist schwer nachvollziehbar.“ Besonders zynisch wirkt, dass die KV in ihrer Stellungnahme lediglich einen „Rückgang“ der Inanspruchnahme in Schorndorf 2024 erwähnt – allerdings ohne das Gesamtbild zu betrachten.
Gesundheitspunkte: Vision trifft auf Gesetzeswand
Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, hatten Kreis und Kliniken eine Lösung entwickelt: sogenannte Gesundheitspunkte – zentrale Anlaufstellen, die medizinische Hilfe, Telemedizin und Beratung unter einem Dach bündeln. Ein Modell, das in Ländern wie Schweden oder Kanada erfolgreich ist. Doch in Deutschland scheitert es – nicht am Geld, sondern an Paragrafen.
„Wir hatten sogar Stiftungszusagen für die Finanzierung“, berichtet Sigel. Doch die KVBW winkte ab: keine rechtliche Grundlage, zu hohe Haftungsrisiken, keine Refinanzierung. Eine Pilotphase? Ebenfalls ausgeschlossen. Die Enttäuschung bei der Projektgruppe ist groß. „Es fühlt sich an, als würden wir gegen eine Betonwand rennen“, so die Ärztin Dr. Angela Rothermel, die das Konzept mitentwickelt hat.
Der Landkreis kämpft – die KV schweigt
Während Landrat, Klinikleitung und Kommunen versuchen, wenigstens die Notversorgung aufrechtzuerhalten, bleibt von Seiten der KVBW vor allem eines: Funkstille oder Schönfärberei. Dass 15 000 Patienten pro Jahr in Backnang künftig ohne wohnortnahe Anlaufstelle dastehen, wird kleingeredet. Dass sich in Winnenden bereits jetzt die Wartenden stapeln, ignoriert.
Ein Konzept wie der Gesundheitspunkt, das Patientinnen und Patienten sortiert, entlastet und digital unterstützt, hätte ein Vorbild sein können – vielleicht sogar bundesweit. Stattdessen bleibt nur das Gefühl: Der ländliche Raum wird abgehängt.
Appell an Berlin: Gesundheit braucht Spielräume
Der Rems-Murr-Kreis hat nun eine Resolution verabschiedet. Die Forderung: rechtliche Spielräume für neue Modelle, schnellere Förderung, echte Reformen. „Wir können nicht darauf warten, dass irgendwann 2027 Fördergelder fließen“, sagt Sigel. „Die Probleme sind jetzt da.“ Gleichzeitig wird der politische Druck erhöht: Briefe an Bundestagsabgeordnete, juristische Schritte, öffentliche Appelle.
Der Ton ist rau geworden – und das aus gutem Grund. Denn es geht nicht um Komfort, sondern um Versorgung. Um Menschen, die im falschen Moment am falschen Ort krank werden. Und um ein System, das – so scheint es – lieber spart, als schützt.