Vereinsmitglied Stefan Nufer kühlt sich im Luftbad ab Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Auf Spurensuche - wir blicken auf Orte, Fassaden und Bauwerke, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Heute: Das Luftbad in Degerloch.

Stuttgart - An einem sonnigen Tag ist auf der Waldau in Degerloch jede Menge los. Auf den Tennisplätzen schlagen sich die Spieler die Bälle zu, eine Gruppe Jogger läuft vorbei in den Wald und auf dem Platz neben dem Restaurant Grieche im Grünen wird Fußball gespielt. Doch mitten in dem sportlichen Treiben steht ein hoher Bretterzaun, der ein großes Gelände umschließt. Was verbirgt sich dahinter? Und hat da jemand etwas zu verbergen?

Ein Schild weist den Weg am geheimnisvollen Zaun entlang Richtung Eingang. „Luftbad Verein Stuttgart“ steht dort. Luftbad – das klingt nach Nostalgie. Und dieser Eindruck wird bestätigt, betritt man das weitläufige Gelände des Vereins. Eine grüne Wiese mit schattenspendenden Bäumen, darunter liegen ein paar Mitglieder des Vereins entspannt auf ihren Liegestühlen und genießen das schöne Wetter. „Was man hier auch machen kann, ist Nichtstun. Denn das können wir besonders gut“, sagt der Vorsitzende des Luftbad-Vereins Jörg Englert mit einem Schmunzeln.

Dabei können die Luftbädler weit mehr als das, wie auch 71-Jährige weiß, der selbst als Ringtennis-Spieler aktiv war. Denn das Ziel des Luftbad-Vereins seit seiner Gründung im Jahr 1903 war die sportliche Betätigung an frischer Luft. Den Mitgliedern und Tagesgästen sollte ein Ort der Ruhe und Entspannung zur Verfügung gestellt werden, der ihrer Gesundheit förderlich ist. Sport und Wellness im Einklang mit der Natur – also alles, was auch heute wieder gefragt ist. Und so hängt ein großes Schild im Eingangsbereich, das auf Trendsportarten wie Tai Chi, Qi Gong, Yoga und Pilates, aber auch Herz- und Lungensport verweist. „Mit unserer Turnhalle können wir die Sportarten auch im Winter anbieten. Das wird sehr gut angenommen“, sagt Englert stolz. Der Bau der Turnhalle im Jahr 2004 markierte einen Wendepunkt in einer Zeit, als die Mitglieder dem Verein fern blieben. „Es gab so viel Ablenkung, da mussten wir auch etwas bieten“, sagt Englert. Dabei stehe Spaß an der Bewegung im Vordergrund, weniger der Wettkampf. Geselligkeit ist im Luftbad ebenso wichtig.

Der FKK-Bereich wird kaum noch genutzt

Der Verein ist sich treu geblieben, geht aber dennoch mit der Zeit – und erfreut sich deshalb heute wieder seiner 300 Mitglieder. Doch was hat es eigentlich mit den Geschichten auf sich, die man sich in Stuttgart heute noch über das Luftbad erzählt? Für viele sind dort oben auf der Waldau hinter dem Zaun nur „die Nackten“. Und manch einer erinnert sich noch gut daran, wie er als Kind versucht hat, durch ein Astloch einen Blick auf das scheinbar wilde Treiben zu erhaschen. „Selbst ich habe das versucht“, erinnert sich Englert, der schon als kleiner Bub mit seinen Eltern Mitglied im Luftbad wurde. Der Grund für die Neugierde: Im Luftbad gibt es einen FKK-Bereich für Damen und einen gemischten FKK-Familienbereich. Lugt man heute hinter den Zaun, der das früher so heiß begehrte Damen-Bad vom Rest des Geländes abgrenzt, findet sich dort jedoch keine einzige nackte Sonnenanbeterin. „Die FKK-Bereiche machen nur acht Prozent des gesamten Geländes aus und werden kaum noch genutzt“, winkt Englert ab.

Freilich war das nicht immer so: Ursprünglich ging es den Degerlocher Luftbädlern auch darum, den Körper in Licht, Luft, Sonne, Wind und Regen zu baden. Was heute niemanden mehr schockiert, galt damals als leicht anrüchig. „Ich erinnere mich noch daran, dass der Damenbereich früher mehr genutzt wurde“, erzählt Vereinsmitglied Stefan Nufer. Er hat es sich auf seinem Liegestuhl bequem gemacht, ab und zu kühlt er sich in der Außendusche ab. Schon als Kind sei er Mitglied im Verein gewesen. „Meine Eltern haben sich hier kennengelernt“, berichtet er und zeigt alte Fotos aus dieser Zeit. Zwar wohnt er inzwischen in Botnang, doch es zieht ihn immer wieder in den „wunderschönen Park“, der für ihn einen Rückzugsort bedeutet. Als Mitglied hat er einen Schlüssel, mit dem er jederzeit das Gelände betreten kann. Außerdem steht ihm seine eigene Umkleidekabine aus dunklem Holz zu, die noch genauso aussieht wie zu den Anfängen des Luftbads. Das Innere seiner Kabine unterscheidet sich jedoch von den anderen Kabinen. Gerahmte Kunstdrucke zieren die Wände. „Ich hatte Zuhause einfach keinen Platz mehr, um die Bilder aufzuhängen“, sagt Nufer. Die Kabinen von anno dazumal hätten aber alle eine Geschichte.

Der Charme des Geländes besteht auch darin, dass die Mitglieder bestrebt sind, die nostalgische Optik zu erhalten. Deswegen halten sie auch an ihrem Bretterzaun fest, der das Gelände in einen abgeschirmten Rückzugsort verwandelt. „Ohne den Zaun würde das Flair verloren gehen“, findet Englert. Nicht wegzudenken ist deshalb auch Stuttgarts erstes Saunabad aus dem Jahr 1948. Doch auch dort finden sich momentan keine Nackten – was jedoch einen anderen Grund hat: „Die bisherigen Pächter mussten aus gesundheitlichen Gründen aufhören, deshalb ist die Sauna geschlossen“, sagt Englert. Gerne würde er seinen Stamm- und Tagesgästen den kleinen Wellnessbereich mit Sauna, Massagen und Kosmetik wieder zur Verfügung stellen – doch bisher konnte er noch keinen neuen Pächter finden, der das komplette Programm anbietet. Er gibt jedoch die Hoffnung nicht auf – schließlich würde das Saunabad die Nostalgie-Oase wieder komplett machen.