Mehr als den Nobelpreis kann man nicht erreichen: László Krasznahorkai Foto: Neumayr/Leo/APA/dpa

Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai erhält den Nobelpreis für Literatur. In seinem Werk trifft apokalyptische Fantastik auf Szenarien von gespenstischer Aktualität.

Der Name des neuen Literaturnobelpreisträgers mag vielen außerhalb literarischer Kreise nicht vertrauter sein als jener der Erwähltheitskolleginnen und -kollegen von der Medizin, Physik oder Chemie. Und doch verdankt sich die Auszeichnung für László Krasznahorkai mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt nicht dem der Nobel-Jury immer wieder unterstellten Streben, das Überraschende und Unbekannte dem Naheliegenden vorzuziehen. Denn erstens müssen sich die unverwüstlichen Spekulanten, die auf den ungarischen Schriftsteller gesetzt haben, mit einer überschaubaren Gewinnsumme zufriedengeben; er war bei den Buchmachern vorab auf den vordersten Plätzen gelistet.

 

Viel entscheidender aber ist zweitens, dass seine verschachtelten, parabelhaften Romane und Erzählungen für das Verständnis unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit mindestens so essenziell sind wie die Quantentechnologien oder metallorganischen Gerüstverbindungen, denen in diesem Jahr ebenfalls Nobelehren zuteil wurden. Und anders als im Fall der naturwissenschaftlichen Spezialgebiete hat in Krasznohorkais Hinterwelten jeder Leser Zugang, der sich nicht davon abschrecken lässt, wenn sich ein Satz auch einmal ohne Punkt, dafür mit umso mehr Kommas über zehn Seiten erstreckt.

Krasznahorkais haben immer wieder andere Künstler inspiriert

Nach diesen Titeln dürfte jetzt häufiger gefragt werden. Foto: imago images/Manfred Siebinger

Grob gesagt gibt es zwei Weisen, sich Literatur anzunähern: Die eine kommt von außen und berücksichtigt die Bedeutungen, die sich im Austausch mit dem politischen, gesellschaftlichen Kontext herstellen. Die andere schaut auf den Text als solchen und leitet aus seiner Autonomie alles weitere ab. Manches Mal konnte man sich fragen, warum die Juroren der Schwedischen Akademie die Gelegenheit verstreichen ließen, in einer Welt im Aufruhr mit Literatur ein Zeichen zu setzen. Doch bei dem 1954 in Gyula geborenen Autor, dessen Vater seine jüdischen Wurzeln lange geheimgehalten hat, findet alles zusammen: eine komplexe ästhetische Eigengesetzlichkeit, die man nicht zu Unrecht mit Kafka verglichen hat, und eine gespenstisch überzeitliche Aktualität.

Der Titel des Romans, mit dem er 1985 bekannt wurde, könnte als Motto über jeder der Nachrichten stehen, die gerade die Krisenzeit der Gegenwart ausbuchstabiert: „Satanstango“. In der mehr als siebenstündigen Schwarz-Weiß-Verfilmung des wesensverwandten ungarischen Regisseurs Bela Tarr wurde die Geschichte, die in einem verrotteten ungarischen Dorf den Teufelskreis von Armut, Erlösungssehnsucht und Manipulierbarkeit durchspielt, zu einem Meilenstein der Filmgeschichte. Überhaupt haben die atmosphärisch dichten Werke Krasznahorkais immer wieder andere Künstler wie den Komponisten Peter Eötvös inspiriert.

In Krasnahorkais Romanen begegnen sich dunkle Apokalyptik und Komik

Noch kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hat der düstere Visionär in seinem wilden Roman „Die Melancholie des Widerstands“ imaginiert, was auf die Befreiung von der totalitären Tristesse des Kommunismus kommen würde: eine autoritäre, fremdenfeindliche Mobilmachung, die an Bedrohlichkeit mit jedem Tag gewinnt. Das Unheil deutet sich im Bild des in die Stadt geschleppten Kadavers eines Riesenwals an. Das Fahrzeug passiert die Baron-Béla-Wenckheim-Straße. Sie führt ein Vierteljahrhundert später in „Baron Wenckheims Rückkehr“ in die ungarische Gegenwart. Ein zu Reichtum gekommener Spross des Geschlechts soll die Stadt retten, doch zu viele spielen mit dem Feuer.

Am Scheitelpunkt zwischen Fantastik und Hyperrealismus begegnen sich dunkle Apokalyptik und grelle Komik. Zu den Protagonisten werden nicht selten Archivare oder ähnliche alexandrinische Gestalten, die über der Unverständlichkeit der Welt zerbrechen.

In der Erzählung „Kleinstarbeit für einen Palast“ ist ein Bibliothekar in Manhattan von der Idee besessen, den Geist großer Künstler zu erfassen, in dem er durch die Stadt streift, um ihren Genius aufzuspüren und in einem unzugänglichen Palast des Wissens einzufangen. Sein Weg endet in der Psychiatrie. Leichter hat es, wer dem Geist des Literaturnobelpreisträgers begegnen will. Die nächste Buchhandlung ist nicht weit.