Am 18. Februar 1949 wurde in Tübingen die letzte von einem westdeutschen Gericht angeordnete Hinrichtung vollzogen. Aus den Akten lassen sich die letzten Stunden des Raubmörders Richard Schuh rekonstruieren.
Rottenburg - Richard Schuh hat schlecht geschlafen an diesem 17. Februar 1949. In Angstträumen sieht er sein Mordopfer Eugen Roth vor sich liegen, oder ihm erscheint seine Mutter, wie sie in den Neckar steigt und ertrinkt. Seit mehr als einem Jahr ist er in Haft, fast ebenso lange dauerhaft am Bein gefesselt – weil er sich auf eine Flucht vorbereitet hat.
Als Schuh am Vormittag aus seiner Rottenburger Zelle geholt wird, heißt es, die Fahrt gehe nach Tübingen zwecks seines Gnadengesuchs. Dort trifft zur selben Zeit der Scharfrichter Wilhelm Burkhard mit der Guillotine ein. Er hat sie per Lkw von Rastatt nach Tübingen geschafft und beaufsichtigt nun an diesem ungewöhnlich milden, sonnigen Februartag seine beiden Gehilfen, die das Gerät aufbauen. Auch der Sarg steht schon bereit. Der Oberstaatsanwalt Richard Krauss reist mit dem eigenen Wagen an.
Vier Mann bewachen Richard Schuh während der Fahrt nach Tübingen, er hat die Hände auf den Rücken gebunden – eine „straffe Behandlung“, wie er beklagt. Um halb zwei kommt er an. Schuh hat einen Kamm, eine Zahnbürste, eine Aktentasche dabei.
Richard Walter Schuh wird im Oktober 1920 in Remmingsheim als uneheliches Kind der Kleinbäuerin Luise Schuh geboren. Als junger Mann lernt er Mechaniker, kämpft dann an der West- und Ostfront. Nach dem Krieg, am Abend des 27. Januar 1948, nimmt ihn der Kraftfahrer Eugen Roth mit, der für Daimler in einem Lkw der US-Army Personentransporte durchführt. Als alle anderen Mitfahrer ausgestiegen sind, erschießt Richard Schuh ihn mit seiner Walther P38, einer Armeepistole. Er montiert die neuwertigen Reifen des Lkws ab und will sie auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen.
Auf einen Fahndungsaufruf („Schwere Bluttat!“) melden sich Zeugen, denen Schuh Reifen angeboten hat. Rasch ist der 1,76 Meter große, schlanke Verdächtige gefasst, am 31. Januar steht er vor Eugen Roths Leiche. Er gesteht, zeigt aber keinerlei Reue. Mitte Februar ertränkt sich Schuhs Mutter im Neckar.
Am 14. Mai 1948 verurteilt ihn das Landgericht Tübingen zum Tode: Schuh habe die Tat kalt geplant und ausgeführt. Er sei von ungewöhnlicher Gefühlskälte, „wenn auch gewisse allgemeine Zeiterscheinungen, die demoralisierenden Mächte des langen Krieges, des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung und des Schwarzhandels die Entwicklung diese Eigenschaften begünstigt haben mögen“.
Um 14.15 Uhr kommt Schuh in Zelle 8 des Gerichtsgefängnisses. Nach einer Dreiviertelstunde verkünden ihm der Oberstaatsanwalt Krauss und der Gefängnisseelsorger Sigel seine Hinrichtung am folgenden Morgen. Schuh wird bleich, atmet schwer, spricht von Wiederaufnahme des Verfahrens. Krauss und Sigel reden ihm das aus: „Schuh ist dann willig auf den ihm gebotenen Gedanken eingegangen, dass er eben durch sein Sterben seine Untat auslöschen und als einer, der gesühnt habe, in den Augen der Menschen dastehen dürfe. Dieser Gedanke entsprach auch, freilich ungewollt, dem starken Geltungsbedürfnis des Schuh“, schreibt Sigel in seinem Bericht.
Seine letzten Wünsche schlagen Pfarrer und Oberstaatsanwalt ihm aus: einen Aufschub der Hinrichtung und ans „Grab“ der Mutter, den Neckar, geführt zu werden. Eine Bestattung in Remmingsheim – der Friedhof liegt gegenüber von Schuhs Elternhaus – hätten die Angehörigen abgelehnt, sagen sie. Dass Schuhs Leichnam bereits der Tübinger Uni-Anatomie angeboten wurde, verschweigen Krauss und Sigel. Nach Bekanntgabe der Hinrichtung wird Schuhs Fessel gelöst und die Zelltüre offengelassen, davor zwei Wachen. Die Henkersmahlzeit bringt Schuhs Verwandter Kurt Haug, Wirt des Tübinger Lokals „Neckarmüllerei“, darunter zwei Flaschen Wein.
Um 18 Uhr ist die Guillotine im Gefängnishof aufgebaut, eine Fallprobe wird durchgeführt. Das Messer wiegt fast 40 Kilogramm und „ist absolut tödlich“, sagt Erich Viehöfer vom Strafvollzugsmuseum Ludwigsburg, wo das Gerät ausgestellt ist.
Seit 1948 diskutiert der Parlamentarische Rat in Bonn über das Grundgesetz – und die Abschaffung der Todesstrafe. In Württemberg-Hohenzollern hat der Staatspräsident Lorenz Bock kurz vor seinem Herztod im August 1948 zwei Todesurteile in Zuchthausstrafen umgewandelt. Sein Nachfolger Gebhard Müller, ein Befürworter der Todesstrafe, verwirft im Oktober 1948 das Gnadengesuch im Fall Schuh – obwohl sein Stellvertreter Carlo Schmid, Schuhs Tanten, der Remmingsheimer Pfarrer und sogar der Gefängnisdirektor sich dafür aussprechen.
Um 20 Uhr beginnt Richard Schuh den ersten von sechs Abschiedsbriefen. Der erste, er geht an die Familie seines Onkels, fällt ihm am schwersten. „Er hat wiederholt angesetzt und den Entwurf wieder vernichtet, mich um Rat gefragt“, schreibt Pfarrer Sigel. Schuh bedauert den Tod seiner Mutter und erkennt „so viele Widersprüche“ in seinem Leben. Er hofft, dass ihm „alle vergeben können, denen ich etwas zu Leid getan habe“.
Erst um 23 Uhr ist der Brief fertig. Schuh wird in dieser Nacht nicht schlafen, ist „immer neu von schwerer Unruhe getrieben“, so Sigel. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, hat die erste Flasche Wein geleert. Schuhs zweiter, kurzer Brief geht an seine ehemalige Verlobte Sofie Öhrlich, Sekretärin beim Tübinger Tagblatt. „Danke nachträglich für Alles, was du Gutes in unserem Verhältnis getan hast“, schreibt er. Ganz ehrlich ist das nicht. Es sei „bezeichnend für seine Gefühlskälte, dass er nach einem Bogen gegriffen hat mit den Worten ‚Jetzt schreib ich an die S.Ö., der besorg ich’s aber.‘“, schreibt Pfarrer Sigel.
Schuh kommt bei Frauen gut an. Im Dezember 1945 schwängert er auf der Terrasse der Neckarmüllerei die Küchenhilfe Karoline Feucht. Sohn Kurt kommt im September 1946 zur Welt. Da weiß Schuh bereits, dass auch die Putzfrau Frida Motzer von ihm schwanger ist. Sie gebärt im April 1947 Tochter Renate, für die Schuh anders als für Kurt Gefühle zeigt. Zur Polizei sagt Motzer nach seiner Verhaftung, sie habe „den Richard Schuh auch heute noch richtig gern“.
Zwischendurch ist Schuh mit einer Dritten verlobt, wenn auch nur zwischen Neujahr und Ostern 1947. Auch Sofie Öhrlich ist von ihm schwanger. Als sie von seinem Doppelleben erfährt, verlässt sie Schuh gegen Anraten ihrer Eltern. Laut Akte „begibt sie sich nach auswärts, wo sie eine Fehlgeburt hat“. Schuh kommt darüber nicht hinweg. Als er Öhrlich im Mai zufällig im Haus seiner Vermieterin antrifft und die von ihm nichts wissen will, fingiert er einen Selbstmord – „aus gekränkter Eitelkeit und um die weitere Beachtung dieses Mädchens zu erzwingen“, urteilt der Oberstaatsanwalt Richard Krauss.
Um 23.30 Uhr schreibt Schuh an Frida Motzer und die Tochter Renate. Er erinnert sich an deren Besuch im Juni 1948, „welcher mich sehr gefreut hat. Wie oft war ich in Rottenb. mit meinen Gedanken bei Dir und Renate. Jetzt ist alles zu spät!“ Dem Brief legt er „eine Kleinigkeit“ für die Tochter bei: „1 Tafel Schokolade, 1 Packung Keks’, 1 Packung Gebäck.“
Renate liest den Brief erst Jahrzehnte später, er treibt ihr Tränen in die Augen. Frida Motzer hatte ihr nach der Auswanderung in die USA erzählt, der Vater sei bei einem Unfall gestorben. Durch einen Zufall stößt Renate auf die Arbeit des Tübinger Historikers Hans-Joachim Lang, der den Fall Schuh aufgearbeitet hat und die wahre Geschichte ihres Vaters erzählt.
Es ist nach Mitternacht. Schuh trinkt immer hastiger, es ist bereits seine zweite Flasche Wein. Er ist unruhig, stöhnt immer wieder „O Herr Pfarrer!“ Als die Glocke der Stiftskirche drei Mal schlägt, beginnt er seinen Brief an die Wirte der „Neckarmüllerei“: „Ja, er ist schwer, mein letzter Gang zur Hinrichtung. Und doch ist es schön, mit dem Tod sühnen zu dürfen, was ich gesündigt habe. Meine liebe seelige Mutter hat es doch schriftlich hinterlassen ‚Auf Wiedersehen im Himmel‘“. Pfarrer Sigel notiert dazu: „Seine religiöse Empfänglichkeit war klein und seine Religiösität mehr sentimental als ursprünglich.“
Halb vier. Der vorletzte Brief geht an seine Tübinger Vermieterin Wilhelmine Klink, bei der er anderthalb Jahre zur Untermiete gewohnt hat. „Soeben erzählte ich Herrn Pfarrer Sigel, wie gut und nett es bei Ihnen war“, schreibt Schuh, „ja damals wäre der Augenblick gewesen, um den Rückzug zu machen. Nun ist es zu spät.“ Gegenüber der Polizei sagt Klink, dass Schuh sich in ihrem Haus „stets gut betragen“ habe, er habe aber mehr und mehr „gedrückt“ gewirkt.
Schuh fragt immer wieder nach der Uhrzeit, malt Kreise und Striche auf das Briefpapier und da, wo die Zeiger auf sechs Uhr stehen, ein Beil. Pfarrer Sigel liest ihm Lied 301 aus dem Gesangbuch vor: „Danket Gott, denn er ist gut / Groß ist alles, was er tut / Seine Huld währt alle Zeit / waltet bis in Ewigkeit.“ Seinen letzten Brief schreibt Schuh um 5.28 Uhr an den Rottenburger Gefängnisdirektor, nicht ohne Hinweis auf die zuletzt schlechte Behandlung im Gefängnis.
Um 5.50 Uhr betreten zwölf als Zeugen geladene Tübinger Bürger den Gefängnishof. Auf telefonischen Hinweis läutet im Rathaus die Armsünderglocke. Der Pfarrer fragt Schuh, ob er statt bei den Beamten einzuhaken „nicht lieber einfach an meiner Hand den schweren Weg gehe“. Schuh willigt ein, nimmt von seinen Bewachern „bewegten Abschied“ und „ist willig wie ein Kind und gefasst mit mir gegangen“.
Im Februar ist es um sechs noch finster, das Thermometer zeigt an diesem Morgen um die null Grad. Ein Urkundsbeamter verliest im Gefängnishof das Urteil. Pfarrer Sigel betet, spricht noch einmal Lied 301 und das Vaterunser. Der Todgeweihte soll „in den letzten Minuten nur vertraute Worte hören“. Der Oberstaatsanwalt sagt: „Richard Schuh, Ihr Leben ist verwirkt! Gehen Sie mutig und gefasst Ihren letzten schweren Gang in dem Bewusstsein, dass Sie nur dadurch Ihre Schuld sühnen und sich von Ihrer Todsünde reinigen können. Gott sei Ihrer Seele gnädig.“ Er übergibt ihn dem Scharfrichter „mit dem Befehl, ihn dem Urteil gemäß zu richten vom Leben zum Tode“.
Die Guillotine wurde 1946 in Hamm aus Holz und Stahl hergestellt – auf Verfügung der französischen Besatzer, die damit in Rastatt Kriegsverbrecher hinrichten. Auch Tübingen liegt in der französischen Besatzungszone. Richard Schuh ist der letzte von einem westdeutschen Gericht Verurteilte, dessen Todesurteil vollstreckt wird. Die Franzosen richten auch nach Februar 1949 noch Kriegsverbrecher hin. Als letzte Hinrichtung auf deutschem Boden gilt die des Stasi-Mitarbeiters Werner Teske durch die DDR 1981.
Der Scharfrichter und die Gehilfen führen Schuh zum Schafott, binden ihn an einem Brett fest. Er ruft dreimal nach dem Oberstaatsanwalt, der ihm laut Protokoll „einige beruhigende Worte sagt“. Das Brett, an dem er festgebunden ist, wird vornüber gekippt, der Kopf zwischen zwei Latten fixiert. Die Gehilfen legen Schuhs Stirn auf ein Lederband und lösen die Sicherung. Der Scharfrichter zieht am Hebel, das Beil fällt geräuschlos. Schuhs Kopf fällt in eine Wanne, das Blut fließt in einen separaten Behälter.
Um 6.10 Uhr ist alles vorbei. Der Leichnam wird in den Sarg gelegt und durch eine Tür in der Hofwand ins benachbarte Anatomie-Institut gebracht – „zu Forschungszwecken“, heißt es. Die Gehilfen reinigen die Guillotine und beginnen mit dem Abbau.