Würfel mit Bildchen können helfen, ein Thema zu finden. Foto: imago/Pixsell/stock&people

Fast noch besser als Vorlesen: Eine selbst erfundene Geschichte, die Eltern ihrem Kind erzählen. Und sich eine auszudenken, das ist mit ein paar Tricks leichter als gedacht.

Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“, fragen Kinder oft. Lassen sich Eltern darauf ein, entwickelt sich ein ganz besonderer Zauber. Denn eine spontan erfundene Geschichte lässt sich ganz individuell auf die Lebenswelt des Kindes abstimmen. Jederzeit. Darüber hinaus sorgen die eigene Stimme und die persönlichen Worte für viel Nähe. „Heimisches Erzählen ist Beziehungsarbeit und Beziehungspflege“, bringt es der Erzählkünstler Norbert Kober, künstlerischer Leiter der Goldmund Erzählakademie in München auf den Punkt.

Doch wie lässt sich eine Geschichte erfinden, die das Kind packt? Das Geheimnis lautet folgendermaßen: Jede interessante Erzählung bewegt sich von einem Problem, das zu Beginn entsteht, auf die Lösung zu.

Ein Beispiel: Vielleicht streiten sich am Anfang der Geschichte mehrere Figuren – dann wird es ihnen am Ende der Geschichte gelingen, sich zu vertragen. Haben sich Eltern dieses simple Prinzip, das hinter jeder spannenden Geschichte steckt, bewusst gemacht, fällt es leicht, frei zu fabulieren.

„Der Weg vom Problem zur Problemlösung ist das Wesentliche, was Kinder – was Menschen überhaupt – an einer Geschichte interessiert“, betont Norbert Kober. Denn durch Geschichten lässt sich lernen, wie ein gelungenes Leben funktioniert. „Kinder entdecken, dass es selbst einem kleinen Däumling gelingen kann, sich in der Welt zu behaupten“, so der Erzählkünstler. Das mache Mut und Hoffnung.

Ein paar Stichwörter reichen

Drei Wörter reichen, um eine Geschichte zu spinnen. Diese Wörter – zum Beispiel Ameise, Elefant und Löffel – kann zum Beispiel das Kind vorgeben. Vielleicht wurde dem Elefanten ein Löffel gestohlen und die Ameise möchte helfen? Alternativ können auch sogenannte Story Cubes entscheiden, wovon die Geschichte handeln soll. Story Cubes sind Würfel, die statt Zahlen einfache Bilder wie zum Beispiel einen Fisch, eine Blume, eine Pyramide oder ein Schaf zeigen.

Das Kind hilft mit

Sich beim Erzählen helfen lassen, ist sinnvoll. Wird die Geschichte zusammen gestaltet und geformt, erscheint sie noch lebendiger. Offene Fragen ermuntern, die Fantasie zu beflügeln und reden zu üben. „Was können die Figuren jetzt machen? Hast du eine Idee?“ Mit diesen Worten lässt sich das Kind miteinbeziehen. Das Gespräch mit dem Kind, das sich ergibt, darf im Vordergrund stehen. Vielleicht lässt sich der Vorschlag, den das Kind bringt, nutzen, um die Geschichte aufzulösen? Dann heißt es: „Genau das ist dem Zwerg auch eingefallen, und deshalb hat er dann ...“ Norbert Kober: „So wird das Kind vom Konsumenten zum Produzenten. Es kann selbst aktiv an der Lösung des Problems mitarbeiten.“

Mit Einfühlungsvermögen

Wer feinfühlig auf die Reaktionen des Kindes achtet, kann die Geschichte jederzeit seinen Bedürfnissen anpassen. Das Kind hat etwas nicht verstanden? Kein Problem, während des Erzählens den Zusammenhang noch mal kindgerecht zu erklären. Oder hat das Kind ein wenig Angst beim Zuhören bekommen? Dann lässt sich schnell ein wenig Spannung aus der Story nehmen, indem sich der Held oder die Heldin aus einer gefährlichen Situation befreien kann.

Drei Zutaten für eine gute Geschichte

1. Viele Kinder begeistert es, selbst zum Helden oder zur Heldin einer Geschichte zu werden. Dann trägt die Hauptfigur zum Beispiel den eigenen Namen oder sieht genau aus wie selbst. „Kinder können sich aber auch gut mit anderen Figuren identifizieren“, weiß Norbert Kober. Voraussetzung ist, dass sich die Geschichte auf die Lebenswelt und die Erfahrungen des Kindes bezieht.

2. Geschichten sollten sich dem Alter des Kindes anpassen. Zweijährige können sich zum Beispiel unter einem Ritter oder einer Hexe noch nicht viel vorstellen, wohl aber Vier- bis Sechsjährige. Die Sprache sollte immer so einfach gewählt sein, dass das Kind gut folgen kann. Und: Je jünger es ist, umso einfacher und kürzer muss die Geschichte sein.

3. Nein, eine Geschichte braucht nicht immer ein rosarotes Happy End, das groß und lautstark gefeiert wird. Aber die Geschichte braucht eine Lösung. Heißt: Das Problem, das der Erzählung zugrunde liegt, muss geklärt werden. So wird am Ende zum Beispiel das Diebesgut gefunden, ein Streit geklärt oder ein Tier gerettet. „Das Kind soll sehen, dass sich auch nach einem schweren Weg das Ziel erreichen lässt – wenn der Held oder die Heldin ihre Ressourcen einsetzt“, sagt Norbert Kober.

Was eine Geschichte nicht braucht

Immer wieder kursieren Geschichten, die Kindern Wege weisen, die ihnen in der heutigen Lebenswelt nicht weiterhelfen. Geschichten von Prinzessinnen, die vom Prinzen auf dem weißen Pferd gerettet werden. Oder Geschichten von Jungen, die allein gegen den Rest der Welt kämpfen und siegen. „Solche Erzählungen legen Rollenbilder fest, die oft aus längst vergangenen Jahrhunderten stammen“, ärgert sich Norbert Kober.

Stattdessen sollten Geschichten Strategien präsentieren, die Kinder heute brauchen, um ihr Leben gut zu bewältigen. So können Erzählungen zum Beispiel von starken Prinzessinnen handeln, die selbstständig kreativ ihre Probleme lösen. Und von Jungen, die ihre Probleme gemeinsam – im Team – besprechen und klären.

Und am Abend . . . 

… kann auch erzählt werden – nun nicht fiktional, sondern biografisch. Dann finden die Geschichten des Tages Raum, um besprochen zu werden. Diese Art, den Tag beenden, hält Norbert Kober für wertvoller, als kurz vor dem Schlafen wieder eine neue – aufregende - Geschichte vorzulesen. Indem Kinder und Eltern sich gegenseitig erzählen, was sie erlebt haben, schließen sie den Tag emotional und rational ab. Was hat dir heute gefallen? Worüber hast du dich geärgert? So können die Fragen vor dem – hoffentlich friedlichen – Einschlafen lauten.