Satteldach, helle Fassade, grüne Fensterläden, kleine Gärten hinterm Haus – so einheitlich präsentiert sich das Eiernest Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Auf Spurensuche: In unserer Sommer­serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Wir blicken auf Orte, Fassaden und Bauwerke, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Heute: das Eiernest am Rande Heslachs.

Stuttgart - Gunter Reich öffnet das Gartentörchen – und bittet hinein in ein wahres Paradies. Nicht groß zwar, aber gut genutzt. Ein kleiner Teich findet sich da, ein Gewächshaus, viel Grün rankt sich um die Terrasse. Von außen lässt sich das kaum vermuten hinter dem winzigen Haus in der Eierstraße. Hier ist Reich vor 74 Jahren geboren, hier will er niemals weg. „Das ist mein persönliches Altersheim“, sagt er lachend. Und fügt an: „Ich bin halt ein Patriot, ein richtiger Eiernestler.“

Das Eiernest in Heslach, gleich oberhalb des Marienhospitals, wirkt wie ein eigenes Städtchen in der Stadt. Über mehrere Straßenzüge finden sich da kleine Reihenhäuschen im selben Stil. Viele Fassaden sind in einer Farbe verputzt, die an braune Eierschalen erinnert, doch seinen Namen hat das Eiernest mit seinen insgesamt 176 Häusern vom gleichnamigen Gewann am Rande des Stuttgarter Talkessels. Die Siedlung entstand von 1926 an im Rahmen eines Notstandsprogramms für den Wohnungsbau. Städtische Arbeiter und Angestellte sollten dort unterkommen.

Das Hochbauamt orientierte sich dabei am damals weit verbreiteten Ideal der Gartenstadt. Schlicht, einheitlich, mit Satteldach und kleinen Gärtchen versehen sollten die Gebäude sein. An luxuriösen Wohnraum war dabei selbst für damalige Verhältnisse nicht zu denken: Die Häuschen, die sich seit 1987 im Bestand der Städtischen Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) befinden, weisen lediglich eine Fläche von 60 oder 74 Quadratmeter auf.

14 Personen auf 60 Quadratmetern

„Am Anfang haben dort oft Familien mit zehn oder zwölf Kindern gelebt“, weiß Reich. Gerade nach dem zweiten Weltkrieg habe die Gegend trotz des optischen Eindrucks einer Mustersiedlung in der Stadt „ein Gschmäckle“ gehabt: „Damals kamen viele Flüchtlinge. Kinderreiche, aber anständige Menschen“, erinnert sich der 74-Jährige. Für ihn als Kind eine harte, aber trotzdem schöne Zeit: „Armut verbindet. Im Eiernest waren alle gleich, es war ein großer Zusammenhalt da.“

Reichs eigene Familie lebte zeitweise mit acht Personen auf der kleinen Fläche. Unterm Dach war der Reif im Winter zentimeterdick. Im Haus gab es anfangs nur eine einzige Wasserstelle, dazu eine Toilette. In der Siedlung stand eine zentrale Waschküche mit Trögen und einer Überdachung, um die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. In den Gärtchen tummelten sich Hühner, Hasen und Enten, die Leute bauten Obst und Gemüse an. „Die meisten Menschen waren Selbstversorger, man nutzte jeden Zentimeter“, erzählt Reich. Die Straßen in der Gegend waren teils so schmal, dass man sich bei Autoverkehr in eine Hausnische drücken musste, um aneinander vorbeizukommen.

Heute ist das Idyll am Rande Heslachs allerdings nicht mehr ungetrübt. Vor elf Jahren hat die SWSG begonnen, die Häuschen zu verkaufen. Unter strengen Auflagen. „Wir veräußern nur an Familien“, sagt Sprecher Peter Schwab. Mieter im Eiernest und deren direkte Angehörige genießen ein Vorkaufsrecht für ihr Haus. Wer lieber zur Miete wohnen bleiben möchte, kann das tun. Erst wenn jemand auszieht und sich niemand im Umfeld findet, der kaufen will, kommen Dritte zum Zuge, die bisher nichts mit der Siedlung zu tun hatten. „110 der 176 historischen Häuschen sind verkauft“, weiß Schwab. 52 davon, also knapp die Hälfte, seien an „Nicht-Eiernestler“ gegangen.

Alteingesessene kritisieren Wildwuchs in der Siedlung

Reich und so mancher andere Alteingesessene verfolgt die Entwicklung trotz der Auflagen mit Bauchgrimmen. „Seit der Verkaufsentscheidung hat sich viel verändert“, klagt Reich. Er kritisiert den „Wildwuchs“ in der Siedlung, viele neue Nachbarn hielten sich nicht an den Denkmalschutz. Vor manchen Gebäuden türmt sich der Müll. Das zuständige Amt allerdings behandle Käufer besser als Mieter: „Da wird mit zweierlei Maß gemessen, dabei sollte gleiches Recht für alle gelten. Wenn zwei Nachbarn dasselbe Regendächle anbringen, wird der Mieter zurückgepfiffen, der Eigentümer nicht.“ Er habe deshalb der Denkmalschutzbehörde der Stadt schon mal ans Herz gelegt, sie möge sich „doch besser einfach auflösen“, wenn sie so arbeite.

Auch mit den Oberen der Stadt hat sich Reich oft genug angelegt. Schließlich hat er bis vor wenigen Wochen die Interessen der städtischen Mieter als Vorsitzender des Mieterbeirats der SWSG vertreten. Fast 30 Jahre lang. Und oft genug deutlich, wie es seine Art ist. „Als es um die Verkaufsregelung im Eiernest ging, haben wir tagelang verhandelt“, erinnert er sich. Und erzählt schmunzelnd von seinem bisweilen recht derben, aber herzlichen Verhältnis zum Aufsichtsratsvorsitzenden Michael Föll. Wenn der Erste Bürgermeister der Stadt mal wieder fassungslos schien angesichts Reichs Direktheit, habe er ihm schon mal zugerufen: „Herr Föll, machet Se ’s Maul zu, es zieht.“

Solche Geschichten aus der Stadt, speziell aber aus dem Eiernest könnte Reich stundenlang erzählen. Bei aller Veränderung: Die Liebe zu seiner Siedlung hört nicht auf. Und er hat sie in der Familie weitergegeben. Einer seiner Söhne hat das Haus vor kurzem gekauft. Es wird in den Händen eines Eiernestlers bleiben. Vielleicht, so hofft der Vater, wird der Sohn einstmals wieder hier wohnen. In dem kleinen Häuschen mit Gartenparadies. Dort, wo zumindest vor langer Zeit alle gleich gewesen sind.

Hintergrund

Gartenstadt

Die Stuttgarter Eiernest-Siedlung lehnt sich deutlich an die Gartenstadt-Bewegung an. Sie nahm Ende des 19. Jahrhunderts in England ihren Anfang und geht auf ein Modell von Ebenezer Howard zurück. Er wollte den rasch wachsenden Großstädten im Zeitalter der Industrialisierung möglichst grüne Siedlungen am Rande der Städte entgegensetzen. Der Plan wurde sowohl in England als auch in Deutschland mehrfach umgesetzt. In Berlin wurde dafür im Jahr 1902 eigens die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (DGG) gegründet.

Als typisches Beispiel einer Gartenstadt mit sich ähnelnden Häusern und Gärten gilt in Stuttgart der Stadtteil Luginsland. Er wurde von 1911 an durch eine Baugenossenschaft speziell für Arbeiter errichtet.

Erschienene Beiträge in der Serie Stuttgarter Entdeckungen findet man im Internet unter www.stn.de/entdeckungen. (jbo)