Im Rampenlicht: Moritz Ludwig (am Ball) und die deutsche Hockey-Nationalmannschaft erleben in Indien große Begeisterung für ihren Sport. Foto: IMAGO/Belga/IMAGO/DIRK WAEM

In Indien ist Hockey Nationalsport. Bei der WM im Bundesstaat Odisha tauchen die deutschen Nationalspieler zurzeit in eine andere Welt ein – mit Spielen vor bis zu 20 000 Zuschauern.

Mats Grambuschs Augen leuchten, als er die letzten Meter der Applausrunde vorbei an der Haupttribüne des Kalinga-Stadions läuft. In ihnen spiegelt sich Scheinwerferlicht. „Das ist komplett anders als in Deutschland“, sagt der Kapitän der deutschen Hockey-Nationalmannschaft voller Begeisterung über die Verhältnisse bei der Weltmeisterschaft in Indien. „Man fühlt sich hier wie ein Star.“

Grambusch ist anderes gewohnt. Daheim spielt der 30-Jährige für Rot-Weiß Köln. Mehr als 150 Fans verlieren sich zu den Spielen des deutschen Meisters nicht mal, wenn Rekordsieger Uhlenhorst Mülheim vorbeischaut. Hier in Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaates Odisha im Nordosten Indiens, spielt er mit der DHB-Auswahl vor 10 000 Zuschauern und mehr.

Nach den Toren zündet Feuerwerk

Die Hockey-Arena in Bhubaneswar ist ein Monument für einen Sport, der nirgendwo sonst auf der Welt derart populär ist wie in Indien oder noch im benachbarten Pakistan. Das Stadion ist dekoriert, wie man es von Fußball-Turnieren kennt. Überall hängen Plakate von gewaltiger Größe mit dem WM-Maskottchen Olly, einer Meeresschildkröte mit Hockey-Schläger. Es gibt Pausenunterhaltung mit DJ und Tänzerinnen, die Glitterpuschel schwenken. Der WM-Song läuft in der Dauerschleife, und die Fans zählen die Sekunden vor dem Anpfiff herunter.

Doch Indien wäre nicht Indien, wenn es nicht noch einen draufsetzen würde. Nach den Toren zündet Feuerwerk, Rauch steigt auf, Sirenen dröhnen, rund um das Stadiongelände erzeugen Tausende farbige Lampions in den Bäumen eine Kulisse wie in Musicals aus Bollywood.

Großes Investment in Hockey im Bundesstaat Odisha

Vor allem in Odisha geht, was anderswo undenkbar wäre. Autor dieser Opulenz ist Naveen Patnaik, der Gouvneur des Bundesstaates am Golf von Bengalen. Der 76-jährige Politiker und Autor diverser Abhandlungen zu soziologischen und historischen Themen ist seit 22 Jahren im Amt und hat Hockey ins Zentrum seiner Image-Kampagne für den verhältnismäßig unbedeutenden Bundesstaat gerückt.

2018 wurde Odisha offizieller Sponsor der indischen Hockey-Nationalmannschaft und erklärte sich bereit, innerhalb von fünf Jahren geschätzte 17 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. 2021 wurde der Vertrag um weitere zehn Jahre verlängert. Auch der Bau des 20 000 Zuschauer fassenden, größten reinen Hockey-Stadions der Welt in der zweiten Ausrichterstadt Rourkela ist ein Ergebnis dieses Investments. Das unvergleichliche Engagement von Odisha Politelite hat auch den internationalen Hockeyverband FIH überzeugt. Drei der vergangenen vier Weltmeisterschaften fanden in Indien statt.

Indische Dominanz bei Olympia – bis 1960

Die Bedeutung von Hockey in Indien fußt auf einer einzigartigen Vergangenheit. Den Sport hatten die englischen Kolonialherren mitgebracht. Schnell fanden die Inder, denen sportliche Mannschaftsaktivitäten bis dahin unbekannt waren, Gefallen an dem Spiel. 1885 gründete sich in Kalkutta der erste indische Hockey-Club.

1928 gewannen die von turbantragenden Sikhs dominierten Inder ohne Gegentor ihre erste olympische Goldmedaille, fünf weitere in Serie folgten. Die Dominanz war derart überwältigend, dass Indiens Nationalteam 25 Spiele bei Olympia hintereinander gewann – dabei 178 Tore schoss und nur 15 kassierte. Erst Pakistan bei den Spielen 1960 in Rom beendet das Regnum.

Die indische Wiederauferstehung ist im Gange

Der Niedergang des Hockeys in Indien fällt zusammen mit der Einführung des Kunstrasens Ende der 1970er Jahre. Auf dem zuvor natürlichem Untergrund versprangen viel lange Bälle. Dribbelkünste entschieden die Partien, die niemand besser beherrschte als die Inder. Seitdem die Kugel nicht mehr über Unebenheiten flippert, sind andere Fähigkeiten gefragt: schnelles Passspiel, ausgeklügelte Matchpläne gepaart mit Athletik und Ausdauer.

Indiens Artisten haben eine Weile gebraucht, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Nachdem sie 1980 noch einmal Gold bei Olympia in Moskau gewannen, folgten 41 Jahre ohne nennenswerten Erfolg. Doch die Wiederauferstehung ist im Gange. Bei den Spielen in Tokio 2021 wurden die Inder Dritte. Im kleinen Finale besiegten sie ausgerechnet den deutschen Olympiasieger von 2008 und 2012, der damit erstmals seit 2004 ohne olympische Medaille blieb.

Zum nächsten DHB-Spiel werden 20 000 Zuschauer erwartet

Das DHB-Team um Chefcoach Andre Henning versucht, den schleichenden Abstieg des deutschen Hockeys aus der Weltspitze zu stoppen. Nach dem 3:0-Auftaktsieg gegen Japan gelang ihm im zweiten WM-Spiel am Dienstag ein feines 2:2 gegen Weltmeister und Olympiasieger Belgien. Am Freitag (14.30 Uhr) geht es zum Abschluss der Vorrunde gegen Südkorea. In Rourkela werden dazu 20 000 Zuschauer erwartet – und eine Atmosphäre, von der die Spieler zu Hause nur träumen können. „Ich will uns nicht mit den Fußballern vergleichen, aber was die Begeisterung für den Sport anbetrifft, sind wir hier in Indien nicht weit weg davon“, sagt Kapitän Mats Grambusch.

Fernduell zum Vorrundenabschluss

Konstellation
Es geht eng zu. Am Freitag (14.30 Uhr) spielt das Team des Deutschen Hockey-Bundes (DHB) bei der WM in Indien gegen Südkorea um den direkten Einzug ins Viertelfinale. Dieser ist dem Gruppenersten vorbehalten – und Belgien, das zum Abschluss der Vorrunde auf Japan trifft, weist bei Punktgleichheit (je vier Zähler) ein um zwei Treffer besseres Torverhältnis auf.

Alternativweg
Als Gruppenzweiter oder -dritter würde die DHB-Auswahl in einem Zwischenrundenspiel um den Einzug in die Runde der letzten Acht kämpfen.