Tausende haben Samstag in Stuttgart demonstriert. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski/Leif Piechowski

An der Kundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz zum “Solidarischen Herbst” nahmen viele ganz unterschiedliche Gruppierungen mit vielfältigen Zielrichtungen teil.

Mehrere Tausend Menschen haben am Samstag auf dem Stuttgarter Schlossplatz für eine solidarische Gesellschaft und eine gerechtere Sozialpolitik demonstriert. Zu der Kundgebung hatte ein breites Bündnis von ganz unterschiedlichen Gruppierungen, Verbänden und Gewerkschaften aufgerufen, unter anderem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Paritätische Wohlfahrtsverband, Campact, Greenpeace und einige mehr. Unter dem Motto “Solidarischer Herbst: Soziale Sicherheit schaffen - Energiewende beschleunigen” sollte auch ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine gesetzt werden. Zeitgleich fanden ähnliche Kundgebungen und Demonstrationen in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt und Hannover statt.

Bunte Mischung bei Demonstration

Wer in diesen Krisenwochen und -monaten zu einer Demonstration aufruft, kann sich ein bisschen schwer tun. Der Grat zwischen für oder gegen etwas sein, zwischen einbeziehen und ausgrenzen, vereinnahmen und vereinnahmt werden, ist in so einer komplexen und komplizierten gesamtgesellschaftlichen und weltpolitischen Situation schmal. Und die Konturen von Haltungen können schnell unscharf werden.

“Basis für unser Engagement ist ein klares Bekenntnis zur Demokratie, zur Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und gegen rechte Hetze”, hieß es im Aufruf zu der Demo am Samstag. Was sich dann auf dem Schlossplatz zwischen Einkaufsbummelnden, Flohmarktgängern, Sonnenanbetern zusammenfand, war eine bunte, für manche vielleicht auch wilde Mischung.

Auch „Omas gegen rechts“ vor Ort

“Omas gegen rechts” neben “Fridays for Future” in der eigentlich viel zu warmen Spätoktobersonne, Atomkraftgegner neben Friedensbewegten, die jede Waffenlieferung an die Ukraine ablehnen, was - je nach Haltung - Diskussionsspielraum für den Grad oder das Verständnis von Solidarität mit dem von Russland angegriffenen Land bietet. Und das Demokratieverständnis der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die mit Transparenten wie “Gegen jede imperialistische Aggression” vertreten war, bietet auch immer wieder Raum für Kontroversen.

Kritik an Bürgermeister Frank Nopper

“Angesichts der sozialen Desaster in unserer Gesellschaft ist es High Noon”, sagte Moderator Joe Bauer, als die Kundgebung um Punkt 12 Uhr mittags begann. Er warnte davor, die “faschistische Gefahr” zu unterschätzen. Schon die Kommentare unter den Aufrufen zu der Kundgebung im Internet würden zeigen, wie verbreitet solches Gedankengut inzwischen sei. Er kritisierte den Stuttgarter Oberbürgermeister, der - im Zusammenhang mit der Tampon-Auseinandersetzung - Transmenschen auf Twitter kritisiere und sich so bei denjenigen einreihe, die den Rechten den Weg bereiten würden.

Ein junger Ingenieur und Informatiker aus der Metall- und Elektrobranche erzählte auf der Bühne, dass er eine Familiengründung in diesem Jahr wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten erst einmal verschoben habe. Er habe jetzt nach dem Studium 30.000 Euro Schulden, finde keine bezahlbare Wohnung, habe Existenzangst, obwohl er ein festes Einkommen habe. Er forderte, die Immobilienkonzerne zu enteignen und zu verstaatlichen, außerdem eine Übergewinnsteuer und eine “Reichensteuer”.

Mutter berichtet über Geldprobleme

Eine alleinerziehende Mutter berichtete, wie schwer es sei, über die Runden zu kommen. Ihr Studium habe sie jetzt erst einmal unterbrochen, um einen zweiten Nebenjob anzunehmen, damit das Geld fürs Leben reiche. “Da werden 100 Milliarden in die Bundeswehr gepumpt, während ich nur 300 Euro für die Energiekosten bekomme.”

Solidarität und sozialer Zusammenhalt seien wichtiger denn je, sagte Nathalie Wollmann, die für den Paritätischen Baden-Württemberg sprach. Sorgen und Ängste breiteten sich immer weiter aus, es bestehe die Gefahr einer sozialen Spaltung und immer größerer Ungleichheit. Eine klare Haltung für eine offene und vielfältige Gesellschaft seien das Gebot der Stunde, sagte sie und forderte eine gerechtere Sozialpolitik, die niemanden zurücklasse.

„Regierung darf nicht so weitermachen”

Die BUND-Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch freute sich über das bunte Bild, das die vielfältigen Kundgebungsteilnehmer boten, “genau das wollen wir ja heute sehen”. Angesichts von Klimakatastrophe und dem Krieg in der Ukraine werde es höchste Zeit, ernsthaft den Ausbau der erneuerbaren Energien anzugehen. Sie sprach sie gegen eine Verteilung von Unterstützungsgeldern nach dem Gießkannenprinzip aus, durch das Vielverbraucher in ihrem Nutzungsverhalten auch noch subventioniert würden. “Die Regierung darf nicht so weitermachen”, sagte sie. “Wir brauchen Lösungen.” Dabei dürften Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie rief auch zur Teilnahme an einer Demonstration gegen den Weiterbetrieb des Atomkraftwerkes Neckarwestheim in zwei Wochen auf.

Forderung nach mehr Soforthilfe

Der DGB-Landesvorsitzende Kai Burmeister sah in der Kundgebung ein Signal an die Politik: “Sorgt dafür, dass die Menschen gut durch den Winter kommen.” Es sei zwar bereits einiges erreicht worden, wie etwa der Gaspreisdeckel, der vom DGB ins Spiel gebracht worden sei. Die 300 Euro Energiepreispauschale reichten aber nicht, er forderte weitere 500 Euro Soforthilfe für jeden noch im Dezember. Die Übernahme der Abschlagszahlung im Dezember durch den Bund sei richtig, aber auch der Januar müsse übernommen werden. Burmeister nahm auch das Land in die Pflicht und wiederholte die Forderungen nach kostenlosem Schulessen, einem Aussetzen der Kita-Gebühren und einem Zuschuss zum Wohngeld. Auch Unternehmen müsse geholfen werden, Hilfe dürfe aber nur bekommen, wer auch Beschäftigung sichere. Um die Energie- und Mobilitätswende zu finanzieren, schlägt der DGB eine Vermögensabgabe vor. Burmeister: “Während viele nicht mehr wissen, wie sie Rechnungen bezahlen können, werden die Vermögenden reicher. Es ist Zeit für eine faire Verteilung.”

Kundgebung verläuft friedlich

Die Kundgebung und der bunte kurze Demonstrationszug der geschätzten rund 4000 Teilnehmenden einmal um den Schlossplatz und das Stadtzentrum verliefen friedlich. Die bekannte Ska-Band No Sports sorgte für Musik, ihr Rhythmus übertrug sich auch auf manchen Passanten an diesem Samstagmittag. Es gelang zwar nicht allen Sonnenhungrigen auf den Rasenflächen und Bänken auf dem Schlossplatz, ob der Vielfalt der unterschiedlichen Gruppen genau herauszufinden, für oder gegen was da eigentlich demonstriert wurde. Aber allein schon mit Musik lebt es sich leichter solidarisch. Der “Solidarische Herbst” soll weitergehen, die Beteiligten an dem gesellschaftlichen Bündnis planen weitere Aktionen.