Die Ditzingerin Jana Görgen hat einen Beruf, in den sich kaum Frauen verirren: Sie ist Dachdeckerin. Eine ausgezeichnete sogar, denn die Gesellenprüfung hat sie mit Bravour bestanden. Damit ist für die 21-Jährige karrieremäßig aber noch lange nicht Schluss
Strohgäu - Jana Görgen hat Seltenheitswert. Jedenfalls im Handwerk, für das sie sich beruflich entschieden hat und wo Frauen Mangelware sind. Zudem hat die junge Frau aus Ditzingen eine von Männern dominierte Branche gewählt – und darin ist sie auch noch ausgezeichnet: Die 21-jährige Dachdeckerin hat ihre Gesellenprüfung mit Bravour bestanden: Als erste Kammersiegerin der Region Stuttgart und dritte Landessiegerin von Baden-Württemberg nimmt sie bald an der Deutschen Meisterschaft teil. Und im Herbst besucht sie die Meisterschule in Karlsruhe. „Ich bin draußen, habe Spaß und viel Abwechslung. Dachdeckerin ist der perfekte Job für mich“, sagt Jana Görgen, die sich als einen ehrgeizigen Menschen beschreibt. „Wenn ich etwas tue, will ich gut abschneiden“, sagt die 21-Jährige. Und nachdem ihre Chefs schon eine Frau aufgenommen hätten, wolle sie sie auch stolz machen.
Der Hemminger Familienbetrieb in dritter Generation, FBS Bedachungen, hat schon rund 15 junge Leute ausgebildet. Jana Görgen ist die erste Frau, sagt Thomas Spieth. Der 35-Jährige führt den 1968 gegründeten Betrieb seit 2006 mit seinem Vater Dieter. Der 60-Jährige sagt, eine bessere Werbung als Jana Görgen gebe es für sein Unternehmen gar nicht.
Sie ist auch der erste Lehrling des Betriebs, der auf die Meisterschule geht, die inklusive der Mietkosten für eine Unterkunft 20 000 Euro kostet und anspruchsvoll ist. „Der Meistertitel ist bei Dachdeckern etwas Besonderes“, sagt Thomas Spieth. Rund 20 Gesellen würden mit Jana Görgen um den Abschluss kämpfen, die Durchfallquote liege bei 50 Prozent. Mit dem Titel kann Jana Görgen studieren, einen Betrieb führen, selbst ausbilden.
Dank Fingerspitzengefühl millimetergenaue Arbeit
Dieter und Thomas Spieth sagten sofort Ja, als Jana Görgen sich um eine Ausbildung bei ihnen bewarb. „Ich empfand es als positiv und sah es als eine Chance, in eine andere Richtung zu gehen“, sagt Thomas Spieth. Die 21-Jährige bringe „neuen Wind rein“. Sie hebe das Betriebsklima, die Motivation und komme bei den Kunden „super“ an. „Sie ist zuverlässig und kann mit ihrem Fingerspitzengefühl auf den Millimeter genau arbeiten.“
Gleichwohl weiß der 35-Jährige, dass Frauen auf dem Bau auch Gerede und Vorurteilen ausgesetzt sind, selbst Firmenchefs „Machogehabe“ an den Tag legen. Ehe Jana Görgen damals als Lehrling anfing, bereiteten er und sein Vater deshalb die Mitarbeiter vor, formulierten Erwartungen, beseitigten Klischees. Frauen könnten nichts, weil sie keine Kraft hätten, heißt es zum Beispiel. „Natürlich ist der Beruf hart, trotz der Hilfsmittel und Maschinen. Aber wir sind Problemlöser und sehen das große Ganze. Man braucht bei uns vor allem Köpfchen, Geschick, Strategie, Planung, selbstständiges Denken und Teamfähigkeit“, sagt Thomas Spieth. Die Kraft, ergänzt Jana Görgen, komme von ganz allein.
Selbstbewusstsein ist gefragt
Ihr war immer klar, dass sie keinen Bürojob ausüben will. Sie schnupperte in den Dachdeckerbetrieb eines Bekannten – und fing Feuer. Dass sie charakterstark sei, selbstbewusst und wortgewandt, kam ihr von Anfang an zugute. Auf dem Bau dürfe man nicht verkrampft sein und sich alles gefallen lassen, sagt Jana Görgen. „Man muss sich selbst reflektieren und in das Baustellenleben reinfinden.“ Vor ihrem ersten Einsatz auf dem Dach sei sie aufgeregt gewesen. „Ich hatte keine Angst, aber gesunden Respekt“, sagt sie. Längst bewege sie sich hoch oben so routiniert, als laufe sie auf dem Boden. Es stehe ja immer ein Gerüst da, und sie sei gesichert.
Jana Görgen möchte andere Frauen zu einem Job im Handwerk ermutigen. „Die Frauen werben zu wenig für ihren Beruf“, findet die 21-Jährige. Andererseits dächten viele Frauen, dass sie nicht ins Handwerk passten, machten aber keine Erfahrung, um ihre Ansichten zu ändern. Viele Dachdeckerinnen hätten bisweilen einen Bezug zu dem Beruf durch die Familie. Es sei grundsätzlich schwer, Nachwuchs zu gewinnen, sagt Thomas Spieth. „Der Bau ist nicht so gut angesehen. Viele wollen lieber einen schicken Bürojob und sich nicht dreckig machen.“ Im Sommer sei es heiß, im Winter kalt und nass.
Frauen Männern um „eine Nasenlänge“ voraus
Auch die Handwerkskammer Region Stuttgart würde sich über mehr Azubis freuen. „Die brauchen wir aufgrund des Fachkräftemangels“, sagt der Sprecher Gerd Kistenfeger. Zurzeit liegt der Fokus mit der neuen Initiative „Frauen im Handwerk“ auf jenen. „Das Thema beschäftigt uns seit vielen Jahren“, sagt Gerd Kistenfeger. Jetzt wolle man Gas geben mit der Kampagne, zumal Corona die Schulbesuche der Kammer verhindert. Es fehlten unzählige Gesellinnen, Meisterinnen, Unternehmerinnen, und schließlich seien Frauen genauso talentiert wie Männer. „Wenn sie sich für einen Beruf wie Glaserin oder Klempnerin entscheiden, sind sie den Männern sogar um eine Nasenlänge voraus“, sagt Kistenfeger: Sie legten ein „unglaubliches Engagement“ hin, hätten hervorragende Noten und lieferten einen perfekten Job ab. „Die Betriebe sind froh, wenn sie solche Frauen haben.“
Doch nach wie vor sei die Denke sehr tradiert: Schülerinnen, Eltern und Lehrer haben demnach noch zu oft überholte Vorstellungen davon, welche Berufe am besten zu Frauen passen. Deshalb fordert das Handwerk seit Langem eine „geschlechtergerechte Berufs- und Studienorientierung“ und zielt bei der Aufklärung auf alle drei Gruppen ab. Kistenfeger sagt, Vorbehalte seien normal. Sobald die Frau durch Kompetenz und Leistung überzeugt, sei aber jedes Vorurteil widerlegt.
Das Handwerk sucht Frauen
Mangelware Ende vergangenen Jahres befanden sich laut der Handwerkskammer Region Stuttgart 2049 junge Frauen in einer handwerklichen Berufsausbildung. Der Frauenanteil liegt damit bei den Ausbildungsverträgen bei fast einem Fünftel. „Der Rückgang im Pandemiejahr betrug aber mehr als sechs Prozent“, sagt der Hauptgeschäftsführer Thomas Hoefling. Vor allem seien die Frauen in den gewerblich-technischen Berufen unterrepräsentiert. In den sogenannten MINT-Berufen dürfte laut Kammerchef Hoefling die Frauenquote „gerne höher“ sein. Es gibt im Handwerk gut 130 Ausbildungsberufe.
Spitzenreiter Bei den Dachdeckern – 55 neue Lehrlinge Ende 2020 – gibt es keine Frauen. Sechs der 158 Zimmerer-Azubis sind weiblich, bei den Stuckateuren vier von 100 Azubis. Weit oben auf der Beliebtheitsskala rangieren dagegen die Berufe Maßschneiderin, Goldschmiedin, Konditorin oder Augenoptikerin. Aber auch einzelne technische Berufe wie Zahntechnikerinnen oder Orthopädieschuhmacherin sind bei Frauen beliebt. Auf Platz eins der Top-Berufe für Frauen steht weiterhin die Friseurin: Von 493 Azubis sind 340 Frauen. Bei den Raumausstattern sind es immerhin 28 Frauen unter den 62 neuen Lehrlingen.