Andreas Sturm war früher Generalvikar im katholischen Bistum Speyer. Er warf hin, veränderte sein Leben radikal, fand eine Ehefrau und eine neue Kirche.
Andreas Sturm sitzt in seinem kleinen Vielzweckraum und berichtet von einem Wunder, mindestens einem statistischen Wunder. Er hat im vergangenen Jahr mehr Zugänge als Austritte verzeichnet.
Vielleicht hängt das mit seiner Biografie zusammen, vom buchstäblichen Sturm des Lebens, der den 50-Jährigen hierher nach Singen am Hohentwiel geworfen hat. Früher war Sturm katholischer Priester, ein prominenter dazu: Bis vor wenigen Jahren wirkte er als Generalvikar in Speyer, war damit nach Bischof Karl-Heinz Wiesemann der zweite Mann und Verwaltungschef des Bistums.
Sturm dient jetzt der alt-katholischen Gemeinschaft
Nun bäckt er kleinere Brötchen, die genauso nahrhaft sind. Einige Kisten mit Mineralwasser sind in dem Raum gestapelt, Tische, Stühle, ein kleines Klavier stehen parat. Sturm macht Kaffee, stellt die Tassen auf den Tisch und die Milch dazu. Er ist groß gewachsen, durchaus jovial und trägt ein blau-weiß kariertes Hemd anstatt des römischen Kollars. Er hat sich gewaltig verändert, auch wenn die Veränderung an nur drei Buchstaben erkennbar ist: Sturm dient jetzt der alt-katholischen Gemeinschaft, die vor allem in Südbaden sehr verbreitet ist.
Sein Umzug von Speyer nach Singen hat vor drei Jahren bundesweit Wellen geschlagen. Dabei war es weniger der Ortswechsel, der für Furore sorgte. Vielmehr ließ der konfessionelle Wellenschlag aufhorchen. Sturm legte damals sein Amt als Generalvikar nieder, zugleich trat er aus der katholischen Kirche aus. Ein doppelter Streich, entsprechend groß die Resonanz.
Sturm will gleichgeschlechtliche Paare segnen
Sturm begründete das sogleich in seiner Art und Weise: Er brachte sich nicht als Rebell in Stellung, der gegen Papst und Papisten zu Felde zieht. Vielmehr argumentierte er sanft und entschieden: Der Synodale Prozess, auf den viele Katholiken setzen, werde die Kirche nicht voranbringen. Alles bleibt beim Alten, so prognostizierte er 2022.
Diese Position ist nicht ganz neu. Das Fass zum Überlaufen brachte ein anderer Vorgang: In einigen Gemeinden wurden damals Regenbogenfahnen gehisst. Geistliche luden zu Segnungsgottesdiensten ein, ausdrücklich wurden gleichgeschlechtliche Paare in die Segnung einbezogen. Auch Andreas Sturm setzte sich für diesen Ritus ein. Er wollte sich diese sakrale Handlung auch nicht vom Vatikan verbieten lassen. Sturm sagte damals: „Ich habe Wohnungen, Autos, Fahrstühle gesegnet – und soll zwei Menschen nicht segnen können, die sich lieben? Das kann nicht Gottes Wille sein.“
Das Nein aus Rom zog für ihn die Bruchlinie. Dabei stand für ihn fest, dass er Priester bleiben will, nur unter andere Vorzeichen. So kam der Wechsel zur alt-katholischen Kirche zustande, die auch im Dreieck zwischen Bodensee, Schwarzwald und Heuberg verbreitet ist. Den mächtigen Dom zu Speyer mit seinen kryptischen Kaisergräbern tauschte er gegen die kleine Kirche St. Thomas in Singen. Sie steht unauffällig an einer großen Straße zwischen Hausblöcken. Das ficht ihn nicht an. Er sagt: „Ich bin angekommen in der Kleinheit und in der Freiheit.“
Alt-Katholiken schreiben den Zölibat nicht vor
Freiheit hat für den Seelsorger noch eine ganz andere Bedeutung. Er zeigt auf einen zierlichen Goldring an seiner Hand. Sturm ist frisch verheiratet, die kirchliche Hochzeit hielten er und seine Frau Sabrina erst kürzlich in der evangelischen Lutherkirche, die liegt gleich auf der anderen Straßenseite. Eine lutherische Pfarrerin hielt die Predigt. „Das ist unsere Ökumene“, sagt Sturm.
Die Alt-Katholiken schreiben den Zölibat nicht vor. Die Ehelosigkeit ist freiwillig, nicht verpflichtend. Wer also heiraten will, soll das auch dürfen. Andreas Sturm kennt seine heutige Frau schon seit Speyrer Tagen. Dass die alt-katholische Kirche verheiratete Pfarrer begrüßt und Pfarrerinnen gutheißt, dürfte seine Entscheidung beflügelt haben. Eine liberale Lebensführung kombiniert mit den klassischen Merkmalen des katholischen Ritus – das kennzeichnet diese Gemeinschaft. In Zahlen: Bundesweit verteilen sich 16 000 Mitglieder auf 60 Pfarrgemeinden.
Ihre Entstehung reicht in das 19. Jahrhundert zurück, als sich die katholische Kirche in der Defensive befand und Regierungen wie die im königlichen Preußen offen anti-katholisch agierten. Für Südbaden sind die Alt-Katholiken so typisch wie die Pietisten im alten Württemberg.
Widerstand gegen das Dogma der Unfehlbarkeit
Was beide Gruppen – bei allen Unterschieden – verbindet: Sie wurzeln in einer geistlich begründeten Opposition zur dominierenden Kirche. Die Alt-Katholiken formierten sich aus dem Widerstand gegen das Dogma der Unfehlbarkeit. Papst Pius IX. wollte damit seine Schäfchen noch enger an sich binden, das war 1870. Er erreichte das Gegenteil. Einige Bischöfe wie Karl Joseph Hefele von Rottenburg stellten sich dagegen. So entstand die Glaubensgemeinschaft, deren Name selbstbewusst gewählt ist. Obwohl sie im langen Maßstab der Religionsgeschichte eine junge Kirche darstellt, nennt sie sich alt-katholisch.
Reichskanzler Otto Bismarck kam der Streit innerhalb der katholischen Kirche damals gerade recht. Er förderte die gerade entstehenden Alt-Katholiken. Und er sorgte dafür, dass sie den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhielten. Dem Protestanten Bismarck war die neue Gruppe ein geeigneter Anlass, um die Romkirche zu schwächen. Nach seinen Vorstellungen hätte das Wachstum der Alt-Katholiken ruhig noch mächtiger ausfallen können.
Die Parteinahme des Preußen hatte eine andere Folge: Während der NS-Herrschaft verhielten sich die Alt-Katholiken politisch ziemlich linientreu. „Sie dienten sich dem Regime an“, sagt Sturm unverblümt. Sie taten dies, um sich vor der Diktatur zu schützen. So dachten sie jedenfalls.
Bei den Alt-Katholiken können alle zur Kommunion gehen
Nach seinem Start in Singen und im kleinen Pfarrhaus kamen sonntags viele neugierige Gläubige in die Kirche St. Thomas. Auch neue Gesichter, die den ehemaligen Generalvikar einmal selbst erleben wollten. „Das war wohl der Sturm-Effekt.“ Die Kirche, benannt nach dem zweifelnden Apostel Thomas, konnte den Andrang kaum fassen. Bei mehr als 40 Besuchern ist das Kirchenschiff voll, und doch ging die Tür immer wieder auf, weil einer hineindrängte. Sturm und Drang sind mittlerweile abgeflaut. Doch sei die Besucherzahl noch immer erfreulich und gegen die allgemeine Tendenz, sagt Sturm.
Er weist auf ein wichtiges Detail hin. „Bei uns können alle zur Kommunion gehen.“ Während der Messe, die sich stark an den katholischen Ritus anlehnt, macht er regelmäßig diese Ansage: „Nicht ich lade zur Kommunion ein, sondern Jesus Christus.“ Das hat sich in Singen und Umgebung herumgesprochen. Immer wieder erscheinen Ehepaare, die nach Scheidung und erneuter Heirat laut der römischen Lehre von der Eucharistie ausgeschlossen sind. Nicht so bei den Alt-Katholiken. „An den Früchten sollt ihr sie erkennen“, zitiert Andreas Sturm biblisch. Seine Früchte: Da trauen sich Leute wieder in die vordere Reihe, die ihrer Kirche lange Zeit ferngeblieben sind.
Nicht alles fällt ihm in den Schoß. Einiges hat auch er dazu lernen müssen. Zum Beispiel, dass bei den Alt-Katholiken der gewählte Kirchenvorstand das letzte Wort hat und nicht der Pfarrer. Laien also vertreten die Kirche nach draußen, nicht der sonst omnipräsente Seelsorger. Rechtsgeschäfte, Verträge – die Laien haben das Sagen und nehmen den synodalen Faden auf. Das war dem Mann neu, der als Generalvikar Geld und Stellen bewegen konnte. Dieser Zipfel vom Mantel der Macht fehle ihm nicht, sagt er. Man nimmt es ihm ab. Er will verstärkt Seelsorger sein statt Büro-Manager.
Seit dem Bruch mit der Papstkirche hatte Sturm einiges zu ertragen
Ganz fugenlos ging der Wechsel nicht über die Bühne. Sein neuer Arbeitgeber erkennt zwar seine Priesterweihe an und setzte ihn sogleich für die Christen in der Stadt Singen und Sauldorf ein. Dort amtiert er aber als „Priester im Auftrag“ – was bedeutet, dass er im Kirchenvorstand nicht abstimmen darf.
Also holt er nach und setzt sich nochmals auf den akademischen Hosenboden. An der Universität Bonn studiert er erneut, dieses Mal mit dem Schwerpunkt alt-katholischer Theologie. Bis 30. September soll er seine Masterarbeit abgeben. Nur dann kann er sich bei der nächsten Wahl als Pfarrer bewerben. Wahl statt Ernennung, auch das ist Prinzip unter den Alt-Katholiken. In seiner schriftlichen Arbeit sind die meisten Seiten noch leer, doch macht er sich da keine Sorgen. „Ich brauche Druck, um fertig zu werden.“
Seit dem Bruch mit der Papstkirche hatte Sturm einiges zu ertragen. Einige Freundschaften rissen ab, „doch die meisten haben zu mir gehalten“. Das Verständnis für seinen Weg überwog. Der Rummel um seine Person flacht ab. Er ist froh darüber. Seine Frau arbeitet in der Schweiz als Unternehmensberaterin, er betreibt Seelsorge. An der Tür kratzt jemand – Toffee, ein zierlicher Hund, den sie aus Italien gerettet haben und der es im kleinen Pfarrhaus auch gut haben soll.