Die Bewerbungsphase für den Ehrenamtspreis Stuttgarter des Jahres läuft. Neue Jurymitglieder verraten, warum Engagement wichtiger ist als je zuvor und wie es sich wandeln muss.
Die Bewerbungsphase für den Ehrenamtspreis „Stuttgarter des Jahres“ läuft. In der Jury sitzen neben Vertretern der ausrichtenden Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten und Volksbank Stuttgart zwei neue Gast-Juroren: der Stadtpalais-Leiter Torben Giese sowie die Bitchfest-Gründerin Jennifer Reaves. Im Topf sind 15 000 Euro, die unter den drei Erstplatzierten, dem Sonderpreis der Jury und dem Schülerpreis verteilt werden. Die Bewerbungen für den Preis laufen sozusagen indirekt: Paten schlagen in einem Bewerbungsbogen eine Person (beziehungsweise Schulklasse oder AG für den Schülerpreis) mitsamt ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit auf der Homepage www.stuttgarter-des-jahres.de vor. Deadline für die Bewerbung ist der 19. Oktober. Welche zehn Kandidaten zum öffentlichen Voting zugelassen werden, entscheidet die Jury, die in diesem Jahr durch Reaves und Giese verstärkt wird. Wir haben mit den beiden neuen Gast-Juroren über das Thema Ehrenamt gesprochen.
„Das Ehrenamt ist die größte Bildung und Persönlichkeitserweiterung“
Jennifer Reaves ist vielen in der Stadt von als ehemalige Geschäftsführerin der Blickfang Design-Messe sowie als Gründerin des Frauen-Festivals Bitchfest bekannt. Sie hat schon oft in Jurys gesessen, da ging’s in erster Linie aber um Design-Preise. Nun wird sie sich dem Thema Ehrenamt in Stuttgart widmen.
Dabei begleitet sie das Thema aktuell täglich am Frühstückstisch. „Mein Sohn wird jetzt 18 und wir haben ständig eine Diskussion, weil ich möchte, dass er sich nach dem Abschluss ehrenamtlich und/oder in einem Work-and-Travel-Konzept engagiert“, sagt die Stuttgarterin. Das Ehrenamt sei vor allem für junge Menschen eine großartige Chance, andere und wichtige Perspektiven zu bekommen, findet sie. Reaves zeigt in Richtung Fenster: „Man muss nicht weit fahren, um zu sehen, dass die Welt nicht so aussieht, wie wenn man hier aus dem Fenster schaut. Deswegen halte ich das Ehrenamt und das Heraustreten aus der eigenen sozialen Bubble für die größte Bildung und Persönlichkeitserweiterung, die man machen kann.“
Und diesen Schritt des Heraustretens müsse man unbedingt machen, findet Reaves. „Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich ganz viel um den Erhalt des eigenen Wohlstands dreht. Ich merke das auch an meinem Sohn: Wenn man fragt, was ihm wichtig ist oder wenn er den Wahl-O-Mat macht, stellt er bei jeder Frage die Rückfrage ‚Was bringt mir das?‘“, bemerkt sie. „Maximierung und Erhaltung des eigenen Wohlstands ist aber nicht der Sinn des Lebens.“
Sie selbst ist in einer sehr sozialen und ehrenamtlich geprägten Familie aufgewachsen. „Ich hatte starke Vorbilder in meinen Eltern, wir hatten immer das Mindset gehabt, dass wir aktiv mitgestalten, auch das Miteinander. So sind meine Schwester und ich aufgewachsen. Unsere Tür war immer offen: Zeit meines Lebens kann ich mich daran erinnern, dass phasenweise immer wieder Personen bei uns untergeschlupft sind, die Hilfe gebraucht haben.“ Helfen und unterstützen, wo man kann, war das gelebte Credo in ihrer Kindheit und Jugend.
Vor allem Reaves’ Mutter hatte durch ihren Job einen großen Einfluss auf die soziale Ader ihrer Tochter. „Meine Mutter hat hier in Stuttgart die Drogenentgiftungshilfe aufgebaut und war da über 30 Jahre lang tätig – in ihren Augen ist Ehrenamt immer etwas gewesen, das dazu beiträgt, dass diese soziale Gesellschaft so funktioniert, wie sie funktioniert.“ Das hat auf die Bitchfest-Gründerin abgefärbt.
Auch wenn sie aus Zeitgründen aktuell kein Ehrenamt innehat, tut sie täglich, was sie kann, um ihren Beitrag an einem friedvollen Miteinander zu leisten. „Man kann auch gesellschaftlich unterstützend wirken, ohne das klassische Ehrenamt zu bekleiden: indem man im Alltag unterstützend wirkt, wenn man jemanden sieht, der oder die Hilfe braucht“, findet die Bitchfest-Gründerin und lebt das Credo ihrer Eltern weiter. Ob sie nun Kolleginnen, die an Weihnachten alleine wären, zu sich und ihrer Familie zum Weihnachtsfest einlädt, einem Vater im Zoo dabei hilft, seinen verloren gegangenen Sohn wiederzufinden oder die Stimme erhebt, wenn es um Ungerechtigkeit geht. „Ich kenne eigentlich keine Frau, die nicht ehrenamtlich tätig ist, denn die Care Arbeit, die wir alltäglich leisten ist ja unbezahlt“, betont die Stuttgarterin.
„Das Ehrenamt muss sich verändern“
Beruflich hatte Torben Giese schon viel mit Ehrenamt zu tun, vor allem im Rahmen seiner Tätigkeit als stellvertretender Direktor des Stadtmuseums Wiesbaden, die er innehatte, bevor er 2017 Museumsleiter des Stadtpalais geworden ist. Aber auch privat ist Giese ehrenamtlich engagiert. „Ich war im Vorstand von unserem Basketball Verein und engagiere mich jetzt im MOMEM, Museum Of Modern Electronic Music in Frankfurt. Ehrenamt kann unglaublich viel Spaß machen.“ Dass das Ehrenamt sich in einer Phase des Wandels befindet, merkt der gebürtige Hanauer. „Die Bereitschaft sich strukturell zu etwas zu verpflichten, sinkt“, sagt Giese.
Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass seine Aussage nicht heißen soll, dass weniger Menschen bereit sind, sich freiwillig zu engagieren. „Ich glaube nicht, dass wir weniger Engagementbereitschaft in der Gesellschaft haben, auch nicht bei der jungen Generation. Wenn Viva con Agua auf dem Reeperbahnfestival zu Hilfe ruft, dann können sie sich vor Freiwilligen kaum retten; oder wenn das Fusion Festival Freiwillige braucht, dann sind auch genug Leute da.“ Die Bereitschaft sei prinzipiell da – „nur eben anders, nicht so, dass man jeden Donnerstag für die nächsten vier Jahre Vereinsvorsitzender ist“.
Flexibilität, Überschaubarkeit und Planbarkeit würden auch im Ehrenamt zukünftig immer mehr in den Vordergrund rücken. Dass es eine Person gibt, die sich von A bis Z um alles im Verein kümmert, vom Duschen reinigen bis zu den Getränken und damit einen Großteil ihrer Freizeit beschäftig ist, das gäbe es immer weniger, sagt Giese. Er plädiert für Arbeitsteilung, um mehr Menschen fürs Ehrenamt zu begeistern. „Man kann zum Beispiel die undankbare Rolle des Schiriwarts auf mehrere Menschen aufteilen, sodass jeder Einzelne nur noch ein paar Wochenenden zuständig ist.“
@stadtkind_stuttgart Sarah Felk hat Platz 1 des Ehrenamtspreises "Stuttgarter:in des Jahres" belegt. Die 30-Jährige häkelt und näht ehrenamtlich Bodys und Spielsachen für die Kinderkardiologie des Olgahospitals. 💓 #herzenssache #ehrenamt #stuttgart ♬ Originalton - stadtkindstuttgart
Auch beim Thema Gegenleistung müsse man sich verändern, meint er. „Das Konzept ‚Ich identifiziere mich symbolisch mit dem Ehrenamt oder über den Verein mit irgendetwas und profitiere irgendwie nebenher davon‘ wird nicht mehr funktionieren“, prophezeit der Museumsleiter. „Es müssen klare Verhältnisse herrschen: Wenn ich das mache, bekomme ich jenes.“ Ob es nun Zugang zu einem Festival oder zu einem Trainingsbereich oder einem exklusiven Event ist: „Jedes Ehrenamt trachtet danach, in irgendeiner Form vergütet zu werden – weil es um Wertschätzung geht.“
Wenn man den Prozess des Wandels erfolgreich hinter sich gebracht hat, sieht Torben Giese rosige Zeiten: „Das klingt jetzt ein wenig pathetisch, aber ich glaube daran, dass die Welt immer vorankommt und das Neue schafft, das sich noch nicht finanziell lohnt und/oder noch nicht funktioniert, wenn sich Menschen ehrenamtlich engagieren. Ehrenamt ist auf eine Art ein Innovationsmotor.“