Dieses Instrument für eine Bauchspiegelung darf in der Filderklinik künftig nur noch ohne Messereinsatz verwendet werden. Damit war eine 21-Jährige bei einem gynäkologischen Eingriff möglicherweise tödlich verletzt worden Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Sie kam mit Bauchschmerzen in die Filderklinik und hat nach einem vermeintlich leichten Eingriff ihr Leben verloren. Der Fall der 21-jährigen Esra O. bewegt die Menschen im Land. Derweil diskutieren Experten über Strategien, wie Behandlungsfehler in Kliniken künftig vermieden werden können.

Stuttgart - Die Freundin, die sich am Donnerstagabend noch so sehr aufgeregt hatte, dass sie ihrer Wut auch bei den Stuttgarter Nachrichten Luft machen musste, findet am Montag keine Worte mehr. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, presst Zeynep (Name geändert) hervor, „es ist unfassbar.“ Ihre beste Freundin ist am Sonntagabend gegen 23 Uhr in der Filderklinik gestorben, und Zeynep flüstert nur noch „Auf Wiederhören“.

Am Donnerstag hatte sie erfahren, dass für Esra O. in der Filderklinik etwas furchtbar schief gelaufen war. Die 21-Jährige hatte sich zwei Tage vorher mit Bauchschmerzen in das Krankenhaus in Filderstadt-Bonlanden begeben. In der Gynäkologie wurde eine Zyste als mögliche Ursache festgestellt.

Esra wollte den Eingriff sofort hinter sich bringen – doch bei der Operation öffneten der Leiter der Abteilung und eine Oberärztin die Beckenvene. Esra verlor so viel Blut, dass das Gehirn vorübergehend zu wenig bekam. Am Mittwoch zeigt O. keine Reflexe, in der Neurologie des Stuttgarter Katharinenhospitals werden massive Schäden des Hirns festgestellt.

Weil dann in der Filderklinik doch noch Hirnströme gemessen werden, schöpfen Familie und Freunde Hoffnung – bis zum Kollaps am Sonntag. Die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion bringt es am Montag zu Tage: Esra O. ist an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Ohne Gehirn konnte das Herz nicht mehr.

40 000 bis 170 000 Ärztefehler in Deutschland pro Jahr

Der Fall kommt in die Öffentlichkeit, weil deutlich mehr als 100 Freunde und Verwandte der Türkin den Verkehr im Foyer der Filderklinik zeitweise zum Erliegen bringen. Doch er hätte sich wohl in jedem Krankenhaus abspielen können. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt: Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums gibt es Schätzungen von 40 000 bis 170 000 Ärztefehlern in Deutschland pro Jahr.

Einen Anhaltspunkt gibt die Jahresstatistik über die Begutachtung von Behandlungsfehlern, die der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) veröffentlicht: Im Bericht von 2014 gingen Gutachter in rund 14 585 Fällen dem Vorwurf von Patienten nach, sie seien Opfer eines Behandlungsfehlers geworden. In jedem vierten Fall, exakt 3687-mal, gaben die Gutachter dem Patienten recht.

Werden solche Zahlen der Ärzteschaft präsentiert, lautet die Antwort oft: „Fehler passieren – auch in der Medizin.“ So formulierte es zumindest der Präsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, als ihm im vergangenen Jahr der Bericht des MDS vorgelegt wurde.

Der Satz klingt logisch und schrecklich zugleich: Logisch, weil gemessen an den mehr als 700 Millionen Behandlungsfällen in Praxen und Krankenhäusern die Zahl der angezeigten Fehler im Promillebereich liegt. Schrecklich in den Ohren aller, die aufgrund einer medizinischen Unachtsamkeit einen Menschen verloren haben – wie jetzt in Filderstadt. Zumal viele der Fehler, so bestätigen es die Gutachter, vermeidbar gewesen wären.

Dessen ist sich Peter Bechtel, der Vorsitzende des Bundesverbands für Pflegemanagement, bewusst. Er wählt seine Antwort auf die Frage, wie sich die Lücke zwischen „prinzipiell vermeidbar“ und „ungeschehen“ kleiner machen ließe, mit großem Bedacht: „Natürlich gibt es für Patienten keine 100-prozentige Garantie für eine fehlerlose Behandlung“, sagt er. „Aber damit Fehler nicht mehr passieren, muss man sie offenlegen.“

"Wir brauchen eine Kultur, die hinschaut"

Bechtel weiß, wovon er spricht. Das Gefühl, dass wegen eigenen Versagens ein Mensch zu Schaden gekommen ist, kennt er gut. Als Krankenpflegeschüler hatte er einem Patienten versehentlich eine zu hohe Dosis eines Medikaments gegeben – und musste wenig später zusehen, wie dieser einen Atem- und Kreislaufstillstand erlitt.

Diese Geschichte bekennt Bechtel offen: „Um anderen Mut zu machen“, wie er sagt. „Wir brauchen eine Kultur, die hinschaut und nicht nur Schuldige sucht.“ Immer noch würden – aus Angst vor beruflichen Konsequenzen – Fehler im Gesundheitswesen verschwiegen, vertuscht und verheimlicht.

Aufklärung tut Not: Fehlerquellen tun sich überall auf – etwa, weil Medikamentenpackungen ähnlich aussehen und es deshalb zu Verwechslungen kommt. Oder weil Arbeitsabläufe eng getaktet sind, so dass in der Hektik vergessen wird, die Hände gründlich zu desinfizieren und es so zu Übertragungen von Keimen kommen kann. Hinzu kommen mangelnde Routine, Zeitdruck und Personalmangel – nach Angaben der Deutschen Stiftung für Patientenschutz die Kernprobleme in Krankenhäusern.

Es sei aber auch nicht so, dass die Kliniken gar nichts tun, sagt Annette Baumer von der Krankenhausgesellschaft Baden-Württemberg: Die Berichte über Behandlungsfehler und gefährliche Krankenhauskeime haben ihre Spuren hinterlassen. „Die Kliniken wissen um das gestörte Arzt-Patienten-Verhältnis“, sagt Baumer.

Nicht umsonst wurde bundesweit ein anonymes Meldesystem eingeführt, bei dem Ärzte und Pflegepersonal selbst begangene oder beobachtete Behandlungsfehler, sowie Situationen, in denen es zu einer falschen Therapie hätte kommen können, melden können. Nach Angaben der Krankenhausgesellschaft haben im vergangenen Jahr 80 Prozent der Kliniken im Land eine verbindlich festgelegte Strategie für das klinische Risikomanagement bereits ganz oder teilweise umgesetzt.

Bundesweites Register für Behandlungsfehler gefordert

Doch Patientenschützern reicht das nicht aus: Die bestehenden Ansätze gegen Fehler müssten endlich verpflichtend für alle Kliniken werden, fordert Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Zudem braucht es ein bundesweites Register für Behandlungsfehler. „Es kann nicht sein, dass Ärztekammer, der medizinische Dienst der Kassen sowie Zivil- und Sozialgerichte die Daten jeder für sich sammeln“, sagt Brysch. „Es müssen all Fakten auf einen Tisch!“

Aber auch die Patienten sollten mehr einbezogen werden, etwa wie in der Schweiz. Dort hat die Stiftung Patientensicherheit Flyer entwickelt. Im Namen der Klinik werden Patienten ermuntert, Fragen zu stellen. Sie sollen kritisch und aufmerksam sein – nicht stumm hinnehmen, was mit ihnen gemacht werden soll.

Die Leitung der Filderklinik versucht sich in „maximaler Transparenz“, so der Kaufmännischen Geschäftsführers Volker Ernst. Der Fall Esra O. wurde in fast allen Details offenbart. Die Klinik hat von sich aus Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei informiert. Die beiden Gynäkologen wurden beurlaubt.

Am Montag teilte die Sprecherin Gabriele Weinmann mit: „Aufgrund der nun laufenden Ermittlungen können wir keine weiteren Aussagen über den Sachverhalt machen.“ Fragen nach aktenkundigen Behandlungsfehlern der in ihrer heutigen Form seit 40 Jahren bestehenden Klinik konnten nicht mehr gestellt werden. Immerhin schrieb die Klinik, die auch anthroposophische Medizin anbietet, einfühlsame Worte: „Wir alle sind zutiefst betroffen von einem Ausnahmefall, der sich so in unserer Klinik noch nie ereignet hat.“

„Das Hauptinteresse der Familie liegt nun in der Aufklärung der Vorgänge und nicht in voreiligen Schuldzuweisungen“, sagt die auf Medizinrecht spezialisierte Juristin Anna Grub, die von der Familie O. beauftragt wurde. Die Stuttgarter Anwältin bearbeitet 30 bis 50 Fälle von Behandlungsfehlern pro Jahr. Doch dieser Fall sei „sehr tragisch, weil er zum Tod geführt hat“.

Deshalb soll nun im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein Gutachter klären, wer Mitschuld trägt und möglicherweise zur Verantwortung gezogen werden soll. Das war auch Zeynep wichtig – bevor Esras Tod sie sprachlos gemacht hat.

HINTERGRUND

Das Krankenhaus in Filderstadt (Kreis Esslingen) hat sich angesichts des Todes einer Patientin nach einer Routine-Operation zutiefst betroffen gezeigt. Ob den behandelnden Ärzten bei der OP am Dienstag vergangener Woche Fehler unterlaufen waren, soll nun ein Gutachten klären, das die Staatsanwaltschaft Stuttgart anordnete – Fragen und Antworten.

Was ist ein Behandlungsfehler? Therapiert ein Arzt einen Patienten nicht ordnungsgemäß, kann ein Behandlungsfehler vorliegen. Dazu gehört auch eine fehlende, falsche oder lückenhafte Aufklärung des Patienten, Behandelt der Arzt seinen Patienten falsch, hat dieser Anspruch auf Schadensersatz und eventuell Schmerzensgeld.

Wer hilft bei Behandlungsfehlern? Hilfe bietet das Beratungstelefon der Unabhängigen Patientenberatung, 08 00/0 11 77 22. Unter der Endnummer -23 wird eine Beratung auf Türkisch und unter der -24 eine auf Russisch angeboten. Die Unabhängige Patientenberatung wird unter anderem von den Verbraucherzentralen und dem Sozialverband VdK getragen. Hilfe für Geschädiigte bietet auch der Deutsche Patienten-Schutzbund, ww.dsp.de.

Wer gibt auf ärztlicher Seite Auskunft? Zuerst sollte der Patient das Gespräch mit dem behandelnden Arzt suchen. Kommt er dort nicht weiter, sind leitende Ärzte oder die Klinikleitung die nächsten Ansprechpartner, In vielen Kliniken gibt es zentrale Beschwerdestellen, an die Patienten sich wenden können. Bei den Ärztekammern gibt es zudem Gutachter-Kommissionen und Schlichtungsstellen. Ansprechpartner sind die jeweils regional zugeordneten Kammern. Dazu gibt es eine Broschüre der Ärztekammern, www.aerztekammer-bw.de. Das Verfahren ist für die Patienten kostenfrei. Krankenkassen vermitteln eine außergerichtliche Rechtsberatung oder holen über ihren medizinischen Dienst ein Gutachten ein. Infos gibt es online unter www.krankenkasse.de.

Was passiert bei einem begründeten Verdacht? Ist ein Behandlungsfehler erwiesen, hat der Patient aufgrund des Patientenrechtegesetzes den Anspruch, die Krankenakte zu sehen und sich Kopien aushändigen zu lassen. Die Kosten für Kopien und Ausdrucke trägt der Patient. Einsicht in die Aktendürfen auch Vertrauenspersonen. Ist der Patient tot, haben die Erben und nächsten Angehörigen das Recht auf Akteneinsicht.

Was tun, wenn es keine Einigung gibt? Teils hilft nur der Weg vor Gericht. Vereine wie das Aktionsbündnis Patientensicherheit raten zu einem sachkundigen Anwalt. Dieser sollte im Verzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer stehen. Die Verjährungsfrist beträgt im Regelfall drei Jahre. Nach 30 Jahren verjähren Schadensersatzansprüche aufgrund eines Behandlungsfehlers. (StN)