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1994 verkünden fünf Schwaben ein "Jahrhundertwerk" - Langsam nimmt Protest Fahrt auf.

Stuttgart - Stuttgart21 sollte die Züge schon 2009 schneller machen. Das Vorhaben aber schleppte sich dahin. Mehr Kurven, Kehren, Höhen und Tiefen kann ein Bauprojekt kaum haben als dieses "Jahrhundertwerk", das schon 1994 verkündet wurde.

Heinz Dürr lehnt sich zufrieden zurück. Er lächelt. Die Art und Weise, wie er mit wichtigen Politikern das große Vorhaben präsentierte, sei ganz wichtig gewesen, sagt er. Hier handle es sich um ein gutes Beispiel dafür, "wie man solche Großprojekte vorstellen muss" - in einer "überfallartigen" Aktion. So könne die Sache vorher nicht zerredet werden.

Nein, die Szene spielt natürlich nicht in der Gegenwart. Es ist Mitte Februar 1995, und der Vorstandsvorsitzende der Bundesbahn sitzt in den Redaktionsräumen unserer Zeitung. Er blickt stolz zurück auf einen Husarenstreich im April 1994: die Vorstellung des Projekts Stuttgart 21.

Damals hatten er und Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) kurzfristig Journalisten zusammentrommeln lassen. Mit den CDU-Verkehrsministern Matthias Wissmann (Bund) und Hermann Schaufler (Land) sowie mit OB Manfred Rommel, auch sie allesamt Schwaben, zündeten sie eine politische Bombe. Sie kündigten an, den Flughafen nicht etwa nur mit einer Stichstrecke an die geplante Schnellbahn-Trasse Stuttgart-Ulm anzubinden, sondern in eine Neubaustrecke einzubinden und diese im Tunnel zu einem neuen unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart zu führen. Der Kopfbahnhof in seiner gewohnten Form solle aufgegeben werden.

Noch handelte es sich um eine Vision, aber um eine sehr konkrete. In Geheimverhandlungen war daran gefeilt worden. Die Verblüffung des Publikums war daher groß. Dabei waren schon früher Weichen gestellt.

Bereits in den 1980er Jahren hatte man sich in Stuttgart den Kopf zerbrochen über die künftige Schnellbahn-Magistrale Paris-Budapest. Um die Ein- und Ausfahrten in den Kopfbahnhof zu vermeiden, wurde ein neuer Fernbahnhof in Cannstatt oder beim Rosensteinpark erwogen - und verworfen. 1988 veröffentlichte der Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl dann Überlegungen, für die er heute "Vater" von Stuttgart21 genannt wird. Sie sollten den Ideen der Bahn-Planer für die Ertüchtigung der Neckar- und Filstaltrasse später immer mehr den Rang ablaufen. Der Schnellbahnverkehr wird, so Heimerls Idee, in einen Durchgangsbahnhof unter dem Hauptbahnhof verlegt, diesen verbindet ein Tunnel mit dem Flughafen. Die Neubaustrecke verläuft von dort an auf einer neuen Trasse meist neben der Autobahn nach Ulm. Der Regionalverkehr bleibt in Stuttgart oben.

Im September 1992 beschäftigt die Heimerl-Trasse das Landeskabinett. Im Herbst will sich auch die Bahn entscheiden. Doch die hat noch viele andere Probleme. Vorübergehend wird es wieder etwas ruhiger um das Projekt. Irgendwann Anfang 1994, als der Stuttgarter Heinz Dürr im Führerstand der auf die Privatisierung zusteuernden Bundesbahn ist, fällt bei dem vormaligen Fabrikanten sowie bei dem Schwaben Wissmann der Groschen. Von einem Flugzeug, so besagt es die S-21-Legende, blicken sie auf die Stadt und erkennen, dass durch die Beseitigung des kompletten Kopfbahnhofs eine gewaltige Fläche für ein zweites Stadtzentrum freizumachen wäre. Die Grundstücke sollen das Geld für den Bau des neuen Bahnhofs liefern. Der Plan für die technische Lösung verschmilzt mit der Finanzierungsidee. Noch weiß die Öffentlichkeit davon nichts. Im März 1994 aber wird eine "verbindliche Übereinkunft" zwischen Dürr und Teufel bekannt, die ICE-Züge auch zum Flughafen zu führen, weil Dürr verschiedene Verkehrssysteme verknüpfen will. Im April 1994 enthüllen Dürr, Teufel, Wissmann und Rommel den ganzen Plan. Die allgemeine Euphorie ist groß. Die Grünen im Rathaus aber misstrauen ihr. Die Ökologisch-Demokratische Partei bemängelt, für die Bahn sei der Nutzen zu gering. Büros gebe es schon genug.

Bis zur Realisierung, weiß auch Dürr, gelte es noch "ungeheure technische Probleme" zu meistern. Die Bahn vergibt eine Machbarkeitsstudie. Im Januar 1995 lautet das Ergebnis: Das Projekt ist technisch zu bewältigen und finanzierbar, es bringt Vorteile für Städtebau und Verkehr. Es entstehe ein "neues futuristisches Tor Stuttgarts in die Welt", erklärt Teufel. Es sei "ein großer Wurf und ein Jahrhundertwerk, für das sich jeder Einsatz lohnt". Rommel bekennt, er habe in Verwaltung und Politik selten etwas gelesen, was ihn so überzeugte. Und Dürr besucht stolz wie Oskar unsere Redaktion.

Unter die Zustimmung in der Öffentlichkeit mischen sich ein wenig Skepsis und Gegenreden. Ähnlich wie nach der Detonation der politischen Bombe 1994 krankt der Geist des Widerstands zunächst an einem Mangel an belastbaren Tatsachen. Für die Zweifel sind vorwiegend die Grünen zuständig. Sie schlagen ähnlich wie ursprünglich Heimerl einen Kombibahnhof mit Schnellverkehr im viergleisigen Tunnelbahnhof und Regionalverkehr im alten Kopfbahnhof vor - was 16 Jahre später der Schlichter Heiner Geißler aufgreift, als bei den Grünen dieser Zug längst auf dem Abstellgleis ist.

Erst gegen Ende 1995 bahnt sich eine Rahmenvereinbarung von Bund, Bahn, Land, Stadt und Region Stuttgart an, mit der die Finanzierung und die bauliche Realisierung Gestalt annehmen. Langsam kommt auch der Protest in Fahrt. Das Umweltbündnis Umkehr Stuttgart kämpft für die Beibehaltung des Kopfbahnhofs mit verbesserten Zu- und Ablaufstrecken oder allenfalls noch einen Kombibahnhof mit Tunnel zum Flughafen. Zehn Architekten werfen der Stadt vor, sie sichere einem Privatunternehmen wirtschaftlichen Gewinn aus einem Grundstücksgeschäft zu. Bauleitplanung werde zu Gefälligkeitsplanung. Auch der Verkehrsclub Deutschland attackiert die Zusage der Stadt, bis Juli 1997 einen städtebaulichen Rahmenplan vorzulegen, der auf 100 Hektar Fläche Wohnungen für 11000 Einwohner und 24000 Arbeitsplätze ermöglicht.

Doch die Vereinbarung kommt zustande. Im Mai 1996 sieht sich unter anderem die Evangelische Kirche zu der Mahnung veranlasst, dass "Bürger nicht nur als Hindernis bei der Durchführung des Projekts betrachtet werden sollten". Später wird zwar an vielen Abenden und in vielen Gruppen über städtebauliche Feinheiten und den Entwurf des Rahmenplans diskutiert - oft aber mit mäßiger Resonanz. Die von der Stadt angebotene Bürgerbeteiligung wird als unzulänglich kritisiert. Der Protest ist aber noch ein schwaches Lüftlein.

Viel kreative Einbindung der Bürger gibt es auch danach nicht. Aber viel Formalismus: Planauslegungen und Fristen, die die Bahn-Planer, Umweltverbände und Juristen beschäftigten. Ende 1997, als der Entwurf für den Bahnhof gekürt ist, erhält der Protest erst ein konkretes Feindbild. Doch selbst hartnäckige Gegner glauben nicht an die Realisierung. Wachsende Kostenschätzungen und Kostenrisiken scheinen dagegen zu sprechen. Manchen Befürwortern erscheint das Schnellbahnprojekt der vielen prozessualen Kurven und Kehren und der personellen Wechsel auch wie eine Fata Morgana. Dürrs Nachfolger Johannes Ludewig stoppt es 1998. Es sei, wird er 2009 erläutern, "für die Bahn schlicht zu teuer und zu groß gewesen".

Ludewig geht 1999, die Vision bleibt. Nachfolger Hartmut Mehdorn legt für sie den Hebel wieder um, als Ministerpräsident Günther Oettinger ihm 950 Millionen für die Strecke nach Ulm und mit Risikoübernahme insgesamt 1,3 Milliarden für Stuttgart21 zugesteht - in Euro, nicht mehr in Mark. Als Mehdorns Nachfolger Rüdiger Grube und Oettingers Erbe Stefan Mappus 2010 volle Kraft voraus geben und den Bahnhofsbau beginnen lassen wollen, bekommen sie es mit einer Bürgerwut zu tun, die den Befürwortern ungerecht vorkommt. Und irgendwie überfallartig.