Hilfe – warum hat mir das keiner rechtzeitig gesagt? Gut, okay: Es gab schon Vorboten. Genau genommen viele, und auch schon frühzeitig. Die Lebkuchen, die gleich nach den Sommerferien die Supermarktregale gefüllt haben, die vereisten Scheiben am Auto, die ich ab Oktober immer wieder morgens freikratzen musste, die Straßenlaternen, die plötzlich mit LED-Tannenbäumchen geschmückt waren. Und trotzdem: Weil der ganze Festtagszirkus ja irgendwie jedes Jahr noch früher anfängt, nehme ich all diese Signale nicht ernst. Ist doch noch Zeit bis Heiligabend. Denkste!
Klar nehme ich mir das jedes Jahr vor, wenn ich nach dem ganzen Festtagswahnsinn wieder völlig erschöpft auf dem Sofa liege und alle Viere von mir strecke: Nächstes Jahr fängst du schon im Spätsommer an, dir Gedanken über Geschenke zu machen. Du suchst frühzeitig mit der Familie das Gespräch, um die heikle Logistik der Weihnachtsbesuche mit Ruhe zu verhandeln. Und dann genießt du die Adventszeit so, wie es aus allen Kanälen jedes Jahr über dich hinweg flutet: Mit warmen Wollsocken, leuchtenden Kinderaugen, stillem Kerzenschein und sinnstiftender Schokolade und vor allem – mit ganz viel Zeit.
Um es gleich vorwegzunehmen: Das geht jedes Jahr mit derselben traumwandlerischen Sicherheit voll daneben. Nur grüßt da nicht das Murmeltier, sondern das Über-Ich mit mahnendem Zeigefinger. „Hättest du doch mal…“ Erst, wenn die Halloween-Dekorationen aus den Displays im Supermarkt verschwunden sind und die explosionsartig sich vermehrenden Adventskalender (die gibt es ja inzwischen wirklich für die abgedrehtesten Utensilien!) unentrinnbar die Supermarktgänge verstopfen, dringt der nahende Countdown überhaupt in mein Bewusstsein. Und dann ist es – wieder – zu spät.
„Inzwischen bin ich ungeheuer gut trainiert!“
Das Gute an der ganzen Sache ist: Dadurch, dass Weihnachten jedes Jahr wieder aufs Neue völlig überraschend kommt, bin ich in Sachen Krisenmanagement inzwischen vielleicht nicht perfekt, aber ungeheuer gut trainiert. Zeit für das Rollout des neuen Updates fürs Advents-Notfall-Management. Das jährliche Kranzbasteln in der Kita ist durch die Einschulung des jüngsten Familienmitglieds obsolet, also muss ich irgendwie selbst frühzeitig auf den Wochenmarkt kommen, um eine ausreichende Menge Tannenreisig zu ergattern. Denn Selbermachen ist Pflicht! Auch, wenn ich mir meine Bastelvorlage diesmal wahrscheinlich selbst suchen muss. Wie stehe ich sonst vor den Familien der Freunde meiner Kinder da?
Und dann: Welche Plätzchenrezepte bekommen dieses Jahr den Zuschlag? Wessen Vorlieben müssen beim rotierenden, familieninternen Ranking dieses Jahr ganz oben auf der Liste stehen? Und wann erstelle ich die Excel-Tabelle, ohne die an ein rationelles Einkaufen der Zutaten sowie das Eintakten der sortengesteuerten Plätzchen-Back-Schichten in den Familienalltag nicht zu denken ist?
Wo gibt es geschmackvolle Weihnachtskarten?
Gut, die Basteltermine in der Kita fallen dieses Jahr aus. Aber wo bekomme ich jetzt individuell gestaltete Weihnachtskarten für die Verwandtschaft her? Auf den Displays in den einschlägigen Schreibwarengeschäften grinsen mich inzwischen nur die übrig gebliebenen debilen Fratzen übergewichtiger, offenbar zugedröhnter Weihnachtsmänner oder geflügelte Schweinchen mit Heiligenschein an. Nein, das kann ich unmöglich an die Menschen schicken, die mich für eine Instanz in Fragen des guten Geschmacks halten. Also doch wieder beim Drogeriemarkt in die Schlange stellen, um die jährlich sich erweiternde Sammlung von Familienfotokarten zu aktualisieren. Wenn nur der Drucker dort nicht wieder streiken würde!
Genau: Und jetzt noch das Weihnachtsmenü. Herrjemine! Die klassische Gans geht gar nicht. Denn durch die Heerscharen von Lebensmittelunverträglichkeiten und klimaschutzbedingten, streng überwachten Dont’s im Familienkreis gleicht das Komponieren eines Weihnachtsmenüs, mit dem niemand ein Problem hat, der legendären Quadratur des Kreises. Also: Welche Komponenten lassen sich wie zusammenfügen, damit alle eine individuell erträgliche Mahlzeit auf dem Teller haben? Und dann: Hoffentlich gibt es nicht wieder Lieferschwierigkeiten bei Kokosmilch oder anderen essenziellen Zutaten…
Online-Bestellung versus Einkauf vor Ort
Nicht, dass damit die jährlich aufploppende prä-feiertägliche To-do-Liste auch nur annähernd abgearbeitet wäre. Das verhindern schon die langen Wunschzettel, denen es sich irgendwo zwischen Adventssingen, Plätzchenverkauf und dem Entwickeln stimmungsvoller Deko-Konzepte zu widmen gilt. Stressfreier ist der nächtliche Einkauf per Online-Bestellung. Aber das ist wieder klimaschädlich und auch nicht gut für den örtlichen Handel. Gewissensfrage: Soll ich an Weihnachten nicht ausdrücklich Gutes tun? Wenn nicht jetzt, wann dann? Also: Rein in die feuchtwarmen öffentlichen Verkehrsmittel, in deren Klima Tropenfrüchte im Grunde wunderbar gedeihen müssten. Denn mit dem Auto in die City zu fahren, das trägt mir wieder eine Rüge meiner achtsamen Kinder ein – und die Parkhäuser sind eh alle voll; es sei denn, man stellt sich schon am Vorabendaufs Parkdeck und übernachtet dann. Ist aber irgendwie auch keine echte Option.
Braucht es für den Zauber zuerst das Getöse?
So groß, wie die Überraschung über die plötzlich über mich hereinbrechenden Feiertage immer ist, so verwundert bin ich jedes Jahr erneut, wie viele Menschen sich im Herzen der Stadt gleichzeitig aneinander vorbeischieben können. Und trotzdem, wenn ich ehrlich bin: Auch das gehört für mich ein bisschen zum Weihnachtsfeeling, das sich über die Adventstage hinweg zwar in Wellen, aber dennoch kontinuierlich aufbaut. Ich glaube, wenn ich tatsächlich tagelang in einem stillen, zugeschneiten Chalet auf Weihnachten warten müsste, bestenfalls in Gesellschaft eines Heißgetränkes und meines Partners – irgendwie würde mir da auch etwas fehlen. Denn irgendwie entfalten die Tage zwischen den Jahren erst dann ihren einzigartigen Zauber, wenn das Getöse bis zum 24. Dezember meinen Blutdruck ordentlich in die Höhe getrieben hat. Hilft ja zudem gegen das Frieren – aber das nur nebenbei.
Gemeinsam darüber lachen ist großartig!
Kalte Füße bekomme ich deswegen eigentlich nur, wenn alles irgendwie zu glatt läuft – das ist einfach verdächtig. So wie die Ruhe vor dem Sturm. Aber ich befürchte, dass ich den ganzen Vorweihnachtsmarathon wahrscheinlich im Grunde meines Herzens doch irgendwie mag – ja, ihn vielleicht womöglich sogar ein bisschen brauche? Wäre es nicht bei rechter Betrachtung der Dinge nicht denkbar, dass mein Unterbewusstsein tatsächlich schuld daran ist, dass Weihnachten jedes Jahr für mich so überraschend kommt? Weil: Sonst wäre all das, worüber wir dann zwischen den Jahren wieder gemeinsam so herzhaft lachen können, womöglich einfach dahin. Gabriele Metsker