Trotz leichter Entspannung in den Pandemiejahren hat der Wohnungsmarkt in Stuttgart und Region angezogen. Die aktuellen Statistiken künden von Zuzug und einem immer größeren Wohnungsmangel.
Dem Wohnungsmangel in der Region trotzen
Die Kommunen in der Metropolregion Stuttgart weisen immer mehr Neubaugebiete aus, um der Wohnraum knappheit zu trotzen. Beispiele dafür gibt es in den Kreisen Ludwigsburg, Esslingen, Böblingen, Göppingen sowie dem Rems-Murr-Kreis.
Größere Kommunen entwickeln Baugebiete in Eigenregie, auch für jene, die sonst am Markt kaum Chancen hätten. Entscheidend sind nun oft Vergabekriterien mit Punktewertung, etwa zu Wohnsitz im Ort, jungen Kindern oder ehrenamtliches Engagement. Bauträgern bekommen Quoten, um erschwingliches Wohnen oder Sozialwohnungen zu realisieren.
Drei große Wohnbau-Entwicklungsflächen gibt es zum Beispiel in Fellbach. Beim Projekt „Wohnen Süd“ sollen auf dem alten Freibadgelände, dem ehemaligen Hallenbad und dem Areal Kühegärten/Apfelweg rund 400 neue Wohneinheiten entstehen - Einfamilienhäuser, Doppel- und Reihenhäuser sowie Stadthäuser mit zwei bis vier Geschossen. Ein Projekt der Internationalen Bauausstellung ist wiederum das Urbane Dorf auf der Hangweide in Kernen: Auf dem Areal einer ehemaligen Einrichtung der Diakonie Stetten verbindet eine Projektgemeinschaft städtisches und dörfliches Leben mit unterschiedlichen Wohnformen und Eigentumsverhältnissen: Sie entwickeln mit dem Stuttgarter Büro UTA Architekten und Stadtplaner und Sima/Breer Landschaftsarchitektur aus winterthur ein neues Wohnquartier für mehr als 1000 Menschen.
Rems-Murr-Kreis
Ambitioniert ist auch, was in Winnenden am Stadtrand auf dem Baugebiet Adelsbach I passiert: 100 Einfamilienhäuser und 150 Wohnungen in Mehrfamilienhäusern sowie 45 Pflegeplätze und zwölf betreute Wohnungen für Senioren sollen entstehen. Für Adelsbach II sind 109 Einfamilienhäuser und 253 Wohnungen in Mehrfamilienhäusern, Einfamilienhäusern, Doppelhäusern und Reihenhäusern geplant - mit Platz für Tiny Houses. Und während in Schorndorf das Gebiet Obere Straßengärten bebaut werden kann, soll das in Altdorf im Neubaugebiet Löhgang am nördlichen Ortsrand möglich sein.
Landkreis Böblingen
Im Landkreis Böblingen wächst gar Renningen mit Malmsheim zusammen - im Schnallenäcker. Neben Einfamilien, Reihen- und Doppelhäusern entstehen dort große Mehrfamilienhäusern mit Sozialwohnungen für finanziell benachteiligte Menschen mit Wohnberechtigungsschein. In Hildrizhausen sollen wiederum junge Familien auf den Rosneäckern, dem letzten Wohnbaugebiet der Gemeinde, ihren Traum vom Eigenheim verwirklichen können. Neue Gebiete zum Bauen sind auch in Schönaich, in Weil im Schönbuch und beiden Ortsteilen der Gemeinde Grafenau, Dätzingen und Döffingen, zu finden.
Landkreis Esslingen
Und östlich Stuttgarts? In Esslingen wird als IBA-Projekt das Tobias-Mayer-Quartier entwickelt, Ende 2023 sollen die Bagger anrücken. Die Architektengemeinschaft Studio Vlay Streeruwitz/Carla Lo/Ingenieurbüro P. Jung übernehmen mit Wittfoth Architekten/ Schreiberplan die Gestaltung der Kettenhäuser und eines L-förmigen Blocks in einer Gartenlandschaft. Auch in der Neuen Weststadt passiert was: ein weitgehend klimaneutrales Stadtquartier mit etwa 480 Wohnungen, Büro- und Gewerbeflächen auf dem einstigen Güterbahnhof-Areal sowie ein Neubau für die Hochschule.
Und in Kirchheim gehören die Baukräne fast schon zum Stadtbild. 1200 neue Wohneinheiten sollen dort entstehen, 15 Prozent öffentlich gefördert, 30 Prozent unter dem üblichen Mietpreis - ein Teil davon im Steingau-Quartier. In Nürtingen ist die „Östliche Bahnstadt“ Part vom Gesamtkonzept „Neue Bahnstadt“: Für rund 750 Menschen will die Stadt auf insgesamt 8,5 Hektar Fläche ein energieautarkes Quartier mit Modellcharakter zu Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen verwirklichen. Als unendliche Geschichte mit Klagen und Änderungen erweist sich in Ostfildern die Bebauung der „Parksiedlung Nord-Ost“. Besser schaut es im Neubaugebiet Akademiegärten in Neuhausen aus: Fast alle Bewohnenden sind eingezogen.
Landkreis Ludwigsburg
Und im Norden der Metropolregion? Dem Kreis Ludwigsburg fehlen laut Schätzungen rund 29000 Wohneinheiten bis 2035. Diesem Problem will man im Ortskern Oberstenfelds trotzen - mit Raum für 1300 Menschen auf den Bottwarwiesen. Das Areal gehöre zu den ganz großen Neubaugebieten in der gesamten Region Stuttgart, sagt Thomas Kiwitt, Technischer Direktor des Verbands Region Stuttgart (VRS). Auf 12,3 Hektar Fläche des ehemaligen Werzalit-Geländes entsteht außerdem Gewerbefläche, Kindergarten, seniorengerechtes Wohnen und mehr. Auch das Neubaugebiet Korntal-West Wohnraum geht nun voran - nach Jahrzehnten Streit -, ebenso einer der zwei Bauabschnitte des Lothar-Späth-Carré in Bietigheim-Bissingen.
In der Kreisstadt Ludwigsburg selbst ist die Innenstadt allerdings dicht. Wohnraum? Der wird in Randlagen geplant, „,Grünbühl.living“ etwa ist das Prestigeprojekt der Wohnungsbau Ludwigsburg (WBL). Zu den weiteren Baugebieten der Barockstadt gehört nördlich des Jahnstadions der Wohnpark Fuchshof. „Wohnen für junge Familien“, heißt es, mit „nachhaltigem Mobilitätskonzept, Grünanlagen, Wegenetz und weiterer Infrastruktur.“ Petra Mostbacher-Dix
Mut zur Lücke
Richtig gemacht bedeutet Nachverdichten urbane Potenziale für alle nutzen.
Es gibt Begriffe, die hier Glücksgefühle, dort Alarmglocken auslösen. Nachverdichtung etwa. Statt neue Flächen zu verbrauchen, werden Lücken, vorhandene und frei werdende Bauten genutzt, um den so dringend benötigten Wohnraum zu schaffen - durch Aufstockungen, Dachausbauten, Umbauten, Ergänzungsbauten und Überbauungen. Supermärkten, Kitas können geeignet sein, aber auch Parkplätze, Garagen, Werkstätten und anderes. Laut der „Potenzialanalyse Wohnen“ hat Stuttgart das Zeug, theoretisch bis zu 18300 zusätzliche Wohnungen zu generieren. Das sind fast so viele wie die rund 19000 anderen Wohneinheiten, die die Stadt bereits in der Zeitstufenliste Wohnen als mögliche Baugebiete schon auflistete. Eingeräumt wird freilich auch, dass das kurz- und mittelfristig umsetzbare Maßs aber - realistisch betrachtet - „deutlich tiefer anzusetzen“ sei. Grund: Von den 5500 Grundstücken mit insgesamt 330 Hektar - also etwa 462 Fußballplätze - sind viele in Privateigentum, etwa 87 Prozent der 18300 Wohneinheiten. 13 Prozent davon sind Flächen der öffentlichen Hand. 89 Prozent der Wohnungen entstünden bereits auf bebauten Flächen, der Rest auf Kleinstbaulücken, Brachen und Randstreifen.
Dass Nachverdichtung ein geeignetes Instrument der Innenentwicklung ist, darüber ist man sich in vielen Kommunen einig: Neben Wohnraum ohne weiteren Flächenverbrauch schaffe sie auch einen Mehrwert für die bestehende Stadt, könne vorhandenen Gebäude und die Umgebung aufwerten. „Innerhalb des Siedlungsbereiches sind außerdem die Wege kürzer“, steht in der Potenzialanalyse. „Auf diese Weise können Fahrten mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) reduziert werden und mehr Strecken zu Fuß oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zurückgelegt werden.“
Trotz den Punkten der Habenseite wird auch das Soll gesehen. „Die größte Herausforderung ist der Konflikt zwischen einer hohen baulichen Dichte und der Sicherung von Freiräumen.“ Immer wieder gibt es Widerstand gegen Nachverdichtungsprojekte, aus Angst, dass etwa durch zusätzliche Gebäude in Wohnsiedlungen und Hinterhöfen die Lebensqualität in der eigenen Wohnung leidet. Beim Deutschen Institut für Urbanistik heißt es: „Innenentwicklung muss stets doppelt gedacht werden - im Sinne einer baulichen und zugleich einer grünen Entwicklung.“ Petra Mostbacher-Dix
Frischer Wind für die Nachverdichtung
In Sachen Nachverdichtung gibt es national und international inspirierende Beispiele.
Im Schlussbericht der „Potenzialanalyse Wohnen“ werden auch Beispiele gelungener Nachverdichtung gezeigt. Darunter sind etwa der berühmte Baulückenschluss des Büros Dierendonckblancke in der Gelukstraat in Gent, und die Treehouses in Hamburg, eine Aufstockung von zwei Geschossen in Leichtbaukonstruktion aus der sogenannten Holztafel-Fertigbauweise, konzipiert von Blauraum architekten.
Bebauung clever ergänzt durch Kopfbauten
Das Büro léonwohlhage hat am Mittleren Ring in München mit Anbauten Wohnraum geschaffen. Und in Stuttgart-Heumaden wiederum gelang das, indem die bestehende Zeilenbebauung der 50er-Jahre-Wohnsiedlung an der Lorbeer-Pfenningäcker-Paprikastraße saniert und durch Kopfbauten ergänzt wurde.
Gewerbe und Wohnen lassen sich sinnvoll vereinen
Wie sich Gewerbe- und Wohnflächen im urbanen Kontext sinnvoll vereinen lassen, demonstriert das Projekt PA 1925 von zanderrotharchitekten in Berlin: Auf dem Dach eines neuen Supermarkts wurde ein Ensemble aus vier Wohngebäuden realisiert.
Wie frischen Wind in die Köpfe kommt, das führt Tête en l'air vor, das Koz architectes in einem alten Arbeiterviertel im Norden von Paris umsetzten. Der Innenhof der pittoresken wurde Bestandsgebäude mit einem nachhaltigen Holzbau verdichtet. Petra Mostbacher-Dix