
Bislang war auf der Wache 8, der Stuttgarter Rettungswache der Malteser im Diakonie-Klinikum, alles ruhig. Ungewöhnlich ruhig für einen Freitagabend. „Das wird sich noch ändern“, versichert Notfallsanitäter Max Möhle. Der gemütliche Mann mit dem freundlichen Gesicht arbeitet seit knapp 20 Jahren im Rettungsdienst und weiß, dass die meisten Einsätze auf die Abend- und Nachtstunden am Wochenende fallen. Also kurz noch mal zur Toilette, ehe auch schon der Melder am Gürtel des Notfallsanitäters losgeht.
Die Leitstelle in Bad Cannstatt hat einen Einsatz für Johannes 8/83-5, so die offizielle Funkrufkennung des 24-Stunden-Fahrzeugs: „Gynäkologischer Notfall, Stuttgarter Norden“ hallt es metallisch aus dem Lautsprecher. Rettungssanitäter Benjamin Bruder wirft sich die Dienstjacke mit den Leuchtstreifen über. Der 21-Jährige wird heute am Steuer des Rettungswagens sitzen und seinem Kollegen assistieren. An dem Funkgerät, das am Armaturenbrett verankert ist, drückt er jetzt die Taste 3. Damit weiß die Leitstelle, dass die Wache 8 den Einsatz übernommen hat. Ab jetzt läuft die sogenannte Hilfsfrist. Bis die beiden Sanitäter am Einsatzort angekommen sind, dürfen in Baden-Württemberg 10, im Ausnahmefall maximal 15 Minuten verstreichen. Zugleich kommen neue Informationen über die Leitstelle: 32-Jährige, Zustand nicht kritisch, Notfall ohne Sonderrechte. Für Benjamin Bruder heißt das: ohne Blaulicht in die Nacht.
Mit zwei schweren Koffern auf dem Rücken geht es hinauf in den 3. Stock. In dem beengten, kärglichen Zimmer kauert eine Frau auf einem Stuhl und hält sich den Unterleib, das Gesicht schmerzverzerrt. Über ihren Knien liegt eine Decke, auf der sich große dunkle Blutflecke abzeichnen. Während Max Möhle nach dem Puls der Patientin fühlt und ihre Lunge mit einem Stethoskop abhört, klemmt Benjamin Bruder das Pulsoximeter an ihren Zeigefinger, um die Sauerstoffsättigung im Blut zu messen.



Keine Hektik, kein Drama, alles läuft ganz ruhig, jeder Handgriff sitzt und wirkt wie abgestimmt. Die Erstuntersuchung, das sogenannte Primary Assessment, in dem der Notfallsanitäter nacheinander alle Vitalfunktionen prüft, ergibt Entwarnung. Doch, weil die Frau wegen ihrer außergewöhnlich starken Periodenblutung in der Vergangenheit schon mehrfach kollabiert ist, steuert der Rettungswagen das Katharinenhospital an - und Max Möhle übergibt die Patientin der Gynäkologin: „Machen Sie's gut! Das wird wieder.“
Zurück auf der Wache geht ein neuer Einsatz ein: Geburt, 29. Schwangerschaftswoche. Während sich der Rettungswagen ohne Blaulicht auf den Weg macht, hat die Leitstelle einen Notfall mit höherer Alarmierungsstufe für Johannes 8/83-5: ein 80-Jähriger, Verdacht auf Herzinfarkt. Zu der Schwangeren fährt jetzt ein anderer Rettungswagen. Das Tempo zieht an. Durch das schmale Dachfenster fällt das Blaulicht nach hinten in den Rettungswagen; Häuserfassaden und Straßenkreuzungen mit roten Ampeln fliegen vorbei.
Das Tempo zieht an. Durch das schmale Dachfenster fällt das Blaulicht in den Rettungswagen. Straßenkreuzungen mit roten Ampeln fliegen vorbei.

In dem kleinen Schlafzimmer liegt ein Mann auf dem Bett, schütteres, braunes Haar, die Augen weit aufgerissen: „Ich sterbe, ich sterbe!“, ruft er in gebrochenem Deutsch. Max Möhle wirft einen Blick auf die Herzstromkurve, die das mobile EKG-Gerät ausspuckt.
Ganz ruhig und in klaren Worten erklärt er, dass auf dem EKG eine Veränderung zu sehen ist und sie deshalb den Notarzt nachfordern. „Wir müssen es ernst nehmen, aber sterben werden Sie heute Nacht nicht“, beruhigt er den Mann und die besorgte Frau.
Anderen Menschen zu helfen - das ist der Grund, warum sich Max Möhle für den Beruf entschieden hat. Mit seinen 20 Dienstjahren ist er allerdings die Ausnahme. Schätzungen zufolge liegt der Schnitt bei fünf Jahren. Denn der Beruf zehrt: belastende Einsätze, wechselnde Schichten und dazu eine enorme Personalnot. „Für uns wird es immer schwieriger, die Fahrzeuge zu besetzen“, erklärt Joachim Fässler, Geschäftsführer des Malteser-Rettungsdiensts Stuttgart.
Auch, weil heute immer mehr Menschen den Rettungsdienst alarmieren, die eigentlich ein Fall für den Hausarzt wären. Max Möhle kann sich dennoch keinen schöneren Beruf vorstellen. Ehe um 6.30 Uhr seine Nachtschicht endet, erkundigt er sich noch nach dem Mann mit Verdacht auf Herzinfarkt.
Seine Blutwerte lassen auf einen Infarkt schließen, aber ansonsten ist sein Zustand stabil. Erleichtert macht sich der 42-Jährige auf den Heimweg.
GUT ZU WISSEN
Wer in Stuttgart die 112 wählt, landet bei der Integrierten Leitstelle in Bad Cannstatt. Sie verteilt die Einsätze an die insgesamt neun Wachen in Stuttgart. Sie werden von Malteser, den Johannitern, vom Arbeiter-Samariterbund und der Feuerwehr betrieben.