Schild an der Demarkationslinie zwischen dem türkischen, international nicht anerkannten Nord- und dem griechischen geprägten EU-Mitglied Zypern. Die Pufferzone wird von UN-Friedenstruppen überwacht. Foto: dpa/Can Merey

Ein von der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen beauftragtes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes kommt zum Schluss, dass der türkische Präsident Erdogan auf Zypern gegen Völkerrecht verstößt.

Stuttgart - Der Blick durchs Fernglas zeigt verrosteten Stacheldraht, leer stehende Hotels und Häuser, nachlässig getarnte Bunker, aus denen es ab und an blitzt, wenn die Sonne auf die Gläser von Feldstechern trifft. Und seit neustem sind Familien zu erkennen, die am Strand Burgen bauen, sich ins Wasser des Mittelmeers stürzen und die Sonne genießen. Nur zweieinhalb Kilometer entfernt serviert Sokratis seinen Gästen Kaffee und Limo und verleiht die Ferngläser für den Blick auf das bunte Treiben am Strand. Teil davon wird der 67-jährige wohl nie mehr sein: Stacheldrahtverhaue und Patrouillen von Friedenssoldaten der Vereinten Nationen hindern den griechischen Zyprioten daran, sein früheres Heimatstädtchen Varosha zu besuchen.

Das war seit der seit der türkischen Invasion 1974 militärisches Sperrgebiet und gehört zur nordzyprischen Stadt Famagusta. Die liegt unmittelbar an der Grenze zwischen der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern und dem EU-Mitglied Zypern im Süden der Insel. Vor der türkischen Invasion 1974 lebten 40 000, überwiegend griechische Zyprioten hier im damals wichtigsten Seebad der Sonneninsel. Sie flohen oder wurden gar vertrieben, als während der türkischen Operation Atilla II Kampfjets die Stadt bombardierten und schließlich am 14. August M-60-Kampfpanzer und begleitende sie überrollte.

Seitdem war kein Leben mehr in Varosha mitten der Pufferzone, die Nord- und Südzypern trennt. Denn in der Resolution 550 verbietet der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ausdrücklich, andere als seine ehemaligen Einwohner in der Geisterstadt anzusiedeln. Bis Recep Tayyip Erdogan, türkischer Präsident, und seine im Norden Zyperns installierte Marionette Ersin Tatar Anfang Oktober in Ankara verkündeten, Varosha für die zyprisch-türkische Bevölkerung und den Tourismus zu öffnen: Das türkische Militär entfernte den um das Städtchen gespannte Stacheldraht, lokalen Behörden asphaltierten Straßen, Fahrradwege und pflanzten Bäume. Seit dem 8. Oktober ist der Strand von Varosha wieder geöffnet – und Tausende kamen, wie lokale Medien berichteten.

Kaum Proteste gegen den Bruch des Völkerrechts

Der Protest – besonders der deutschen EU-Ratspräsidentschaft – hielt sich Grenzen. Er rufe, ließ Außenminister Heiko Maas einen Sprecher verkünden, „vor allem die Türkei auf, von einseitigen Provokationen abzusehen“. Das Europaparlament formulierte etwas schärfer. Die Nato schweigt bis heute. Eindruck hat das alles auf Erdogan offenbar nicht gemacht – wie auch die Sanktionen, die während des EU-Gipfels Mitte Dezember wegen als illegal erachteter, türkischer Probebohrung nach Gas vor Zypern verhängt wurden.

Im Gegenteil: Erdogan höhnt: „Der Gipfel hat in Wahrheit nicht die erhoffte Antwort auf die Erwartungen einiger Länder gebracht.“ Gemeint sind Frankreich, Österreich, Zypern die härtere Maßnahmen fordern – und besonders Griechenland, das ein Waffenembargo will. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wirft Erdogan wegen dessen Operationen in Aserbaidschan, Libyen und Syrien gar „aggressiven Interventionismus“ vor. Deutschland wollte „balancierte“ Sanktionen und der „Türkei auch weiter die Hand“ reichen. Im März soll die Lage in der EU neu bewertet werden.

Dabei will Erdogan inzwischen sogar entdeckt haben, dass Varosha sowieso schon immer türkisch war. 1571 hätten die Osmanen die Stadt von den Venezianern erobert, seitdem sei sie türkisch. Aus dieser Zeit hätten türkische Zyprioten – vor allem türkisch-muslimische Stiftungen – noch eine „Alteigentümerschaft“ an Immobilien in Varosha. „Die wahren Besitzer dieses Ortes sind eigentlich bekannt und nun wartet dieser Ort auf den Tag, an dem er seine wahren Besitzer treffen wird“, zündelt er. Folgerichtig besuchte er gemeinsam mit Tatar am 15. November, dem 37. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik Nordzypern das Städtchen zum Picknick. Sein Land werde in der Varosha-Frage ein weiteres Mal auf die Seite derer in der Welt stehen, denen ihre Rechte verweigert würden.

Wissenschaftler: Erschwerte Lösung des Zypernkonflikts

Dabei verletzt Erdogan in Varosha das Völkerrecht, sagt der Wissenschaftliche Dienst in einem gerade veröffentlichten Aufsatz: Die Öffnung und Besiedlung Varoshas durch die Türkei beschreite „einen nur an türkischen Interessen orientierten Weg – im Gegensatz zu der vom Sicherheitsrat vorgezeichneten und immer wieder angemahnten Unterstellung der Stadt unter die internationale Verwaltung“ der Vereinten Nationen. Zudem erschwere die Öffnung Varoshas die Lösung der Zypernfrage durch Verhandlungen Rahmen des UN-geführten Friedensprozesses, analysieren die Politologen und Völkerrechtler des Parlamentes. Denn: bereits der offene Strand schaffe Fakten, der „eine weitere türkisch-nordzyprische Besiedlung der ‚Geisterstadt‘ Varosha zwangsläufig nach sich ziehen“ werde. Souvenirläden, Restaurants würden zwangsläufig öffnen, Liegestühle vermietet, Toiletten gebaut.

Erdogan, klagt die außenpolitische Sprecherin der Linken, Sevim Dagdelen an, „treibt die Spaltung der Mittelmeerinsel voran“. Diese, wie auch weitere dauerhafte Provokationen und Kriegsdrohungen des türkischen Präsidenten, dürften nicht folgenlos bleiben, sagt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende mit Verweis auf die Wissenschaftler des Parlaments. Die Bundesregierung müsse ein umfassendes Waffenembargo und den Stopp von Finanzhilfen einleiten.

Auf die milden Dezember-Sanktionen hat Erdogan am vergangenen Freitag reagiert. In einem Videotelefonat mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beteuerte er, seine Beziehungen zur EU erneuern zu wollen. Der Deutschen dankte er für ihre Bemühungen um die Beziehungen zwischen der Türkei und der Union. Und lobte die positiven Entwicklungen auf dem letzten EU-Gipfel.