Hellmut Westermann in seiner Wohnung Foto: Christian Gottschalk Foto:  

Hellmut Westermann hat 1945 noch als Soldat gekämpft. Heute sieht der Senior Bilder aus der Ukraine, die den Erinnerungen ähneln. Was kommen da für Gedanken auf?

Das Pferd, das nicht weit von der Wohnung entfernt in einem Tübinger Stall steht, gehöre ihm schon noch mit, sagt Hellmut Westermann. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht. „Aber ich reite nicht mehr.“ In wenigen Wochen wird Hellmut Westermann seinen 97. Geburtstag feiern. Unruhige Zeiten hat der Senior erlebt. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges gehörte er als Teil der bespannten Artillerie zum letzten Aufgebot derer, die Berlin verteidigen sollten. Ein Leben, das in kriegerischen Zeiten begann und das jetzt, auf seiner Zielgeraden, erneut mit einem Krieg vor der Haustür konfrontiert wird.

 

„Leichen purzeln uns entgegen“

An der Wand von Hellmut Westermanns Wohnung hängen die Fotos der Urenkel in trauter Gemeinsamkeit mit selbst gemalten Kunstwerken des Seniors. Der Wellensittich schimpft über den ungewohnten Besuch. Einen Namen hat er nicht. „Ich sag immer Vögelchen“, sagt Westermann. Wenn er zurückdenkt an den Krieg, dann kommen ihn immer wieder grausige Szenen in den Sinn – wie die damals in Magdeburg. Rund einen Monat vor dem Feuersturm von Dresden erlitt Magdeburg ein ähnliches Schicksal, wurde von britischen Bomben in Schutt und Asche gelegt. „Wir mussten Türen aufmachen, da purzelten uns Leichen entgegen“, sagt Westermann. Aufgebahrt wurden die Toten in der Kirche – und dort dann zum zweiten Mal verschüttet, als das Gebälk des Gotteshauses in sich zusammenbrach.

Es waren Frauen, die beim Gang in den Luftschutzkeller ihre Pelzmäntel angezogen hatten, Kinder, Jugendliche – allesamt mit einer feinen Staubschicht überzogen. Bilder, die es so ähnlich seit fast einem Jahr wieder im Fernsehen zu sehen gibt. Was er gedacht hat, als vor ziemlich genau einem Jahr die russischen Truppen in die Ukraine marschierten, das weiß Hellmut Westermann noch heute. „Ich hatte Angst“, sagt der Mann, der unfassbar viel Tod und Leid erlebt hat. Angst, „dass es jetzt wieder zu einem Krieg kommt“.

Eher Hoffnung als Gewissheit

In die Angst hat sich Wut gemischt. Wut über den Bundeskanzler, der „so einen Quatsch macht und Panzer in die Ukraine schickt“. Wut über die Mitglieder des Bundestages, „da drinnen sitzt doch niemand, der wirklich weiß, was ein Krieg bedeutet“. Wut über den russischen Präsidenten: „Der Wladimir Putin, der ist doch verrückt.“ Es ist die Wut eines äußerst willensstarken Mannes über ein Weltgeschehen, das durch nichts und niemanden beeinflussbar zu sein scheint. Seine eigenen Probleme mit dem Alkohol, die hat Hellmut Westermann noch im hohen Alter in den Griff bekommen. Alleine, weil er es so wollte. Aber das, was da in der Ukraine geschieht, das lässt ihn hilf- und fassungslos zurück.

In dem Krieg, in dem er selber gekämpft hat, da habe er schon russische Panzer gesehen, sagt Hellmut Westermann. Aber die seien immer rechtzeitig umgekehrt. Erschießen habe er niemanden müssen. Ob er glaube, dass der Krieg jetzt wieder zu uns komme? Hellmut Westermann denkt nach. „Nein“, sagt er, das werde „Putin, dieser Kerl“ nicht wagen. „So idiotisch kann er doch nicht sein.“ Doch auch wenn es bestimmt klingt – es ist die Hoffnung, die da zum Ausdruck kommt, nicht die Gewissheit.

An halben Soldaten vorbeimarschiert

An der Wohnungstür von Hellmut Westermann hängt der Achtung-Zettel. Das, was zu beachten ist, bevor er sein Zuhause verlässt. Ist der Herd aus? Ist der Schlüssel dabei? Das Kurzzeitgedächtnis ist mit fast 97 Jahren manchmal brüchig. Das, was Hellmut Westermann als 18-Jähriger erlebt hat, ist präsent. Wie er mit der Armee Wenck, in der auch der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher diente, entgegen den Befehlen aus Berlin über die Elbe setzte, um in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu kommen, wie er an Kameraden vorbeimarschierte, die nur noch „halbe Soldaten“ waren. „Was hat das alles gebracht?“, fragt Westermann und gibt die Antwort gleich selber: „So ein Krieg, der bringt doch nichts.“

Lieber über schöne Dinge reden

Allzu oft spreche man in seinen Seniorenkreisen nicht über das, was da in der Ukraine vor sich gehe, sagt Hellmut Westermann, lieber über schöne Dinge, über Musik. Ihm selbst ist um seine eigene Zukunft auch nicht bang. „Ich habe mein Leben hinter mir“, sagt Westermann. Aber da gebe es die Kinder, die Enkel, die Urenkel. Für die hat Hellmut Westermann vor einigen Jahren sein Leben aufgeschrieben und als Buch binden lassen. Titel: „Was ich noch sagen wollte“. Der letzte Satz darin ist fett gedruckt und mit einem dicken Ausrufezeichen versehen: „Nie wieder Krieg!“