Foto: AP

Stand Samstagnachmittag: Fast 40 Tote auf palästinensischer Seite, darunter 15 Zivilisten, 8 davon Kinder. Mehr als 340 Verletzte. 

Jerusalem - Am Freitagabend sitze ich bei einer Familie in Jerusalem am Tisch, deren Name hier ungenannt bleiben soll. Es ist der Abend des Shabbat – und auch in Familien, die nicht religiös sind, ist es üblich, sich um eine große Tafel zu versammeln, die vor Essen und guter Stimmung überquillt. Alle sind gekommen, die Kinder und Enkelkinder, gut zehn Menschen dicht an dicht, der Sohn in Amerika ist per Skype zugeschaltet. Es wird ziemlich laut und ziemlich viel durcheinander geredet. Immer wieder kommt die Sprache auf den Krieg in Gaza und auf den Luftalarm, der wenige Stunden zuvor in Jerusalem ausgelöst wurde. Die Rakete schlug zynischerweise ein paar Kilometer südlich, in der Nähe eines Dorfes im Westjordanland ein. Plötzlich sagt die Schwiegertochter zu mir: „Auch wenn wir routiniert in so etwas zu sein scheinen, wir sind es nicht.“ Und dann noch einmal mit Nachdruck: „Wir sind es nicht.“

Einer fehlt an diesem Abend am Tisch: Nennen wir ihn Ofer. Er ist mit der Tochter verheiratet und er ist Pilot bei der israelischen Luftwaffe. Bis zur letzten Minuten hatten sie gehofft, dass er zum Essen kommt, aber dann kann er doch nicht weg von seinem Stützpunkt. Er wird gebraucht. Ich weißt nicht, was Ofer in dieser Nacht macht. Die Armee bombardiert bis Samstag früh nach eigenen Angaben 200 Ziele in Gaza. Sie habe Angst um ihn, sagt seine Frau.

Krieg ist nicht objektiv. Man kann als Journalist die Bombeneinschläge zählen, die Toten und die Verletzten. Man kann sich die Bilder der zerstörten Häuser angucken, man kann an die Grenze zu Gaza fahren – wenn man denn mutig genug ist. Man kann mit Israelis sprechen, mit Palästinensern, mit Politikern und Experten. Aber was man sieht und hört, gibt immer nur einen Ausschnitt wieder, eine Sicht der Dinge. Und vielleicht muss man sich als Journalist damit begnügen, möglichst viele dieser Sichtweisen an die Menschen weiter zu reichen, damit diese sie zu einem Bild zusammensetzen können wie ein Puzzle. So verstehe ich diesen Blog hier.

Am Samstagvormittag telefoniere ich mit Hussein Amody, einem 20-jährigen Palästinenser, der zur Zeit in Gaza City lebt. Hussein ist Blogger und studiert Journalismus und er will möglichst viele Menschen darüber informieren, wie es derzeit den Menschen im Gazastreifen geht. In dieser Nacht hat er nur zwei Stunden geschlafen. Ein Bombenregen ging über dem Gazastreifen nieder, die israelische Armee spricht von 200 Luftangriffen, unter anderem wurde das Büro von Ministerpräsidenten Hanijeh zerstört. Nach Informationen der Zeitung Haaretz sind in dieser Nacht viele Palästinenser aus dem Norden und Osten dieses kleinen Stückchens Land geflogen. Hussein nennt mir einige Zahlen, die mit anderen Quellen übereinstimmen. Stand Samstagnachmittag: Fast 40 Tote auf palästinensischer Seite, darunter 15 Zivilisten, 8 davon Kinder. Mehr als 340 Verletzte. Haaretz schreibt außerdem von 5 zerstörten Moscheen, elf Schulen, mehr als 220 beschädigten oder komplett zerstörten Gebäuden. Leer seien die Straßen in Gaza City, die Geschäfte und Schulen geschlossen, erzählt Hussein, während im Hintergrund immer wieder Einschläge zu hören sind. Nur in den Krankenhäusern herrsche Hochbetrieb: „Viele Ärzte arbeiten seit Mittwoch ununterbrochen. Es gibt nicht genug Medizin und Verbandsmaterial.“

"Leid der Palästinenser bislang zu wenig in den westlichen Medien beachtet"

Auch Adie Mormech, ein 34-jähriger britischer Friedensaktivist und seit vier Monaten in Gaza, erzählt mir von der Situation in den Krankenhäusern. „Viele Verletzte sind dort, Menschen, denen man nicht mehr helfen kann. Ich habe heute gesehen, wie die Ärzte versucht haben, ein kleines Mädchen wiederzubeleben. Aber es war nichts mehr zu machen.“ Wut, Anspannung und Erschöpfung sprechen aus Adies Worten. „Wenn Wohnhäuser und Straßen bombardiert werden, in denen Kinder spielen, dann hat das doch nichts mit der Zerstörung militärischer Einrichtungen der Hamas zu tun! Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Adie spielt darauf an, dass die israelische Armee betont, sehr gezielt Einrichtungen der Hamas, Waffenlager und Raketenabschuss-Anlagen zu zerstören. Die ganze Nacht sei der Bombenregen niedergegangen, sagt Adie. „Das ist jedes Mal, als ob dich jemand fest hält und ganz stark durchschüttelt. Und du sitzt da, und kannst nichts anderes tun, als auf die nächste Bombe zu warten.“ Wie Hussein erzählt er auch, dass es in Gaza City keine Bunker gibt. Adie unterrichtete zuletzt im Flüchtlingslager Zeitoun Englisch: „Einer meiner Schüler, ein zwölfjähriger Junge, rief mich an und sagte, dass er sehr große Angst habe“, sagt Adie.

Hussein und Adie – beide sehen das Leid der Palästinenser bislang zu wenig in den westlichen Medien beachtet. „Alle fragen immer, wie es den Israelis in dem Krieg geht. Aber wer fragt eigentlich, wie es den Palästinensern geht?“, sagt Adie.

Ich bin überzeugt, man muss beide fragen.

Was mir Israelis erzählt haben, die in einem Kibbuz leben, der nur etwa einen Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt liegt, lesen Sie hier.