Adele Raemer stellt sich den Ereignissen des 7. Oktobers 2023. Foto: Mareike Enghusen

In einem Kibbuz nahe des Gazastreifens versucht Adele Raemer ihr Trauma des 7. Oktober 2023 zu überwinden.

Vor allem den Geruch hat sie vermisst. Von Eukalyptusbäumen und frisch gemähtem Gras, von Erde, Dung und Kühen, „von Natur eben“, sagt Adele Raemer und lacht. Trotz allem ist sie froh, dass sie zurück ist, hier im Kibbuz Nirim, kaum mehr als einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Die 71-Jährige sitzt auf der sonnigen Veranda ihres Häuschens. Es ist still, nur das Zwitschern der Vögel ist zu hören. „Unser Kibbuz hat noch nie so schön ausgesehen“, sagt sie. „Aber der Schein trügt.“

 

Die Fensterstreben, die die Terroristen zerbrachen bei dem Versuch, in ihr Haus einzudringen, hat Raemer längst ersetzen lassen. Auch sonst finden sich keine Spuren des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023. Die Ruinen verbrannter Häuser sind geräumt, Einschusslöcher gekittet, Blutflecken entfernt. „Aber die inneren Wunden”, sagt Raemer und legt die Hand auf ihr Herz, „die lassen sich nicht so einfach heilen.“

Als Hamas-Terroristen an jenem Samstag vor zwei Jahren das Kibbuz überfielen, zog Raemer sich in den Schutzraum ihres Hauses zurück. Über Stunden hörte sie Explosionen, Schüsse und Rufe auf Arabisch, einmal dicht am Fenster. Fünf Menschen töteten die Terroristen an diesem Tag in Nirim, fünf weitere entführten sie. Dass es nicht mehr waren wie etwa in Nir Oz, drei Kilometer südlich, verdankte Nirim dem Kibbuz-eigenen Verteidigungskommando: bewaffneten Bewohnern, die die Terroristen zurückdrängen konnten.

Größtes Massaker an Juden nach 1945

Dennoch hätte Adele Raemer beinahe drei ihrer Enkel verloren. Die Kinder, damals zwei, sechs und acht Jahre alt, hatten am Tag des Angriffs bei ihrem Vater geschlafen, der in Nirim von Raemers Tochter getrennt lebt. Er brachte sie in den Schutzraum seines Hauses, schärfte ihnen ein, sich nicht zu rühren, griff dann nach seiner Waffe und erschoss einen Hamas-Mann in seinem Wohnzimmer. Die übrigen Terroristen, die in sein Haus eingedrungen waren, flohen. Sechs Stunden lang, erzählt Raemer, habe ihr Schwiegersohn anschließend im Schutzraum vor der Tür gekniet, Waffe im Anschlag. Das älteste der Kinder, ein heute zehnjähriges Mädchen, weigere sich bis heute, im Kibbuz zu übernachten.

Insgesamt ermordeten die Terroristen an diesem Tag rund 1200 Menschen, entführten 250 weitere. 48 halten sie noch immer in Gaza fest. Über deren Schicksal verhandeln derzeit Vertreter Israels und der Hamas in Kairo. Ausgang ungewiss.

Zwei Wochen nach dem Angriff, dem größten Massaker an Juden nach 1945, saß Adele Raemer in einem Hotel in Tel Aviv und sagte einen bedeutungsschweren Satz: „Vor dem 7. Oktober war ich eine Friedensaktivistin. Jetzt bin ich eine Überlebensaktivistin.“ Raemer erinnert sich an diese Worte heute nicht mehr. Sie habe unter Schock gestanden, kaum fähig, zu funktionieren. Doch die Lehre, die sie aus dem Massaker gezogen hat, bleibt. „Früher dachte ich: Die meisten Menschen in Gaza wollen einfach nur etwas zu essen auf dem Tisch haben, ihre Kinder sicher aufwachsen sehen und mit uns als gute Nachbarn leben“, sagt sie. „Heute weiß ich nicht, ob ich das noch glauben kann.“

Unverständnis in Israel über den Westen

Es waren, daran erinnern viele Menschen in Israel immer wieder, ja nicht nur Hamas-Kommandos, die an jenem Tag über die Grenze stürmten. Ihnen folgten auch zahlreiche Zivilisten über den niedergerissenen Grenzzaun, liefen in die überfallenen Kibbuzim und plünderten Häuser. Adele Raemer erzählt, eine Freundin im benachbarten Kibbuz Nir Oz habe das Lachen fremder Frauen und Kinder in ihrer Küche gehört, während sie selbst sich mit ihrer Familie im Schutzraum verschanzte.

„Ich habe keinen Zweifel daran, dass es in Gaza unschuldige Menschen gibt“, sagt Adele Raemer. Doch seit dem 7. Oktober schwingen in Israel bei Sätzen wie diesen oft ein Aber mit. Auch Raemers Satz hat eines. „Aber es sind viel weniger, als ich vor dem 7. Oktober gedacht habe.“ Raemer ist mit diesem Gefühl nicht allein. Für viele Linke in Israel, meint der israelische Philosoph und Autor Micah Goodman, bedeutete der 7. Oktober einen „doppelten Schock“: Auf das Entsetzen über den brutalen Vernichtungswillen der Hamas folgte ein zweiter Schock über die Reaktion des Auslands. Viele liberale und progressive Israelis, vor allem in Kunst, Kultur und Wissenschaft, fühlten sich bis zum 7. Oktober 2023 als Mitglieder einer internationalen, säkularen, intellektuellen Gemeinschaft von Gleichgesinnten; und sie sahen Israel als wenngleich nicht perfekte, aber dennoch in ihrer Essenz liberale Demokratie, fest eingebettet in den globalen Westen. Dass vermeintlich feministische Organisationen rund um die Welt nach dem 7. Oktober zu den dokumentierten sexuellen Verbrechen der Hamas schwiegen, dass Boykottaufrufe gegen Israel an Universitäten, auf Film- und Musikfestivals besonders laut sind, dass scheinbar freundliche Staaten wie Großbritannien nun einen palästinensischen Staat anerkannt haben, zum Jubel der Hamas – all das hat vor allem Linke in Israel erschüttert.

Ruinen, Explosionen, Menschen, die vor Leichensäcken im Staub knien

„Es heißt oft, den Israelis ist es egal, was die Welt über sie denkt“, sagt Goodman. „Aber das ist nicht wahr. Sie wollen, dass die dschihadistischen Kräfte sie fürchten. Aber sie wollen, dass der Westen sie liebt. Israel hat sich strategisch für Furcht entschlossen, um seine Abschreckungskraft wieder herzustellen. Aber genau das kostet uns die Liebe des Westens.“

Wer in Berlin oder Paris, in London oder Washington Nachrichten aus dem Nahen Osten anschaut, sieht Bilder der Zerstörung aus Gaza: Ruinen, Explosionen, schluchzende Menschen, die vor Leichensäcken im Staub knien. Wer in Israel den Fernseher anstellt, hört Geschichten vom 7. Oktober. Die Angehörigen der letzten Geiseln in Gaza sind zu Personen des öffentlichen Lebens geworden. Jeder kennt Lishay Miran, die Frau des entführten Omri Miran, Vater zweier kleiner Töchter. Jeder kennt Einav Zangauker, Mutter des entführten Matan, deren Wikipedia-Seite in sieben Sprachen verfügbar ist. Und hier, an Orten wie Kibbuz Nirim, kennt fast jeder einige der Entführten persönlich. Von ihrer Veranda aus deutet Adele Raemer in Richtung des Nachbarhäuschens, vielleicht 30 Meter entfernt. „Dort“, sagt sie, „hat Familie Buchstav gewohnt.“ Yagev Buchstav, der Sohn, wurde vor zwei Jahren von der Hamas verschleppt. Im August 2024 barg Israels Armee seine Leiche in Gaza.

Im Kibbuz Nirim bricht ein fernes Grollen die Stille. Es ließe sich mit einem Gewitterdonner verwechseln, strahlte der Himmel nicht in freundlichstem Blau. „Wir hören den Krieg“, sagt Raemer und schaut gen Westen, in Richtung des Gazastreifens. „Tag und Nacht.“

Das Datum des 7. Oktobers hat sich eingebrannt in die kollektive Psyche der Gesellschaft. Raemer selbst hat es sich auf ihr rechtes Fußgelenk tätowieren lassen, in schlanken, geschwungenen Linien, die über die Ziffern hinausreichen und die Streben eines Hauses formen. „Es steht für die Idee, dass wir unsere Gemeinschaft wieder aufbauen”, sagt sie. „Größer, sicherer, besser und stärker als je zuvor.“