Was die Frau möchte, spielt bei einer Zwangsehe keine Rolle. Foto: dpa

Unter Zwangsehen leiden auch Mädchen und junge Frauen im Südwesten. Genaue Zahlen gibt es kaum, Beratungsstellen rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Entscheidet sich eine Frau für Freiheit, bedeutet das oft den Bruch mit der Familie.

Stuttgart - Helin ist Kurdin und wurde im Iran geboren. Als sie zehn Jahre alt ist, kommen ihre Eltern mit ihr und ihren Geschwistern nach Deutschland. Helin geht zur Schule und lernt schnell Deutsch. Sehr früh muss sie Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen und die Mutter im Haushalt unterstützen. Nach ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen wird nicht gefragt.

Das Verhalten der zwei älteren Brüder verändert sich, je älter Helin wird. Sie darf nicht mehr allein die Wohnung verlassen und nicht mehr anziehen, was sie möchte. Die Brüder kontrollieren und schlagen sie. Dann kündigt ihr Vater auch noch an, einen Bräutigam für sie gefunden zu haben.

Als brave Tochter hat Helin gelernt, gehorsam gegenüber ihren Eltern zu sein und nicht zu widersprechen. Doch je länger sie über die geplante Heirat nachdenkt, desto verzweifelter wird sie. Unter keinen Umständen kann sie diesen fremden Mann heiraten.

Zwangsverheiratung als Spitze des Eisbergs

Helins Geschichte ist kein Einzelfall, berichtet eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle Yasemin der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart. Zwangsverheiratung sei oftmals „die Spitze des Eisbergs“ – weil die Betroffenen im Vorfeld häufig schon jahrelang psychische und körperliche Gewalt erleben, so die Beraterin.

„Es vergeht keine Woche, ohne dass jemand deswegen bei uns Hilfe sucht“, sagt Alexandra Gutmann, Leiterin der Beratungsstelle für Frauen bei der Diakonie Heilbronn. Entweder melden sich junge Frauen, die akut betroffen sind; Frauen, die vor Jahren zwangsverheiratet wurden und nun Gewalt in der Ehe erleben, oder aber Lehrer oder Sozialarbeiter, die eine Betroffene kennen. Genaue Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland aktuell von Zwangsheirat betroffen sind, gibt es derzeit nicht. Eine Studie des Familienministeriums ermittelte für das Jahr 2008 3443 Frauen, die von Zwangsverheiratung bedroht beziehungsweise betroffen waren. Eine Umfrage der Fachkommission Zwangsheirat Baden-Württemberg nennt 215 Fälle im Südwesten im Jahr 2005.

„Wir gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist“, sagt Myria Böhmecke, Referentin für Gewalt im Namen der Ehre bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. „Nur wenige Betroffene trauen sich, darüber zu sprechen oder wissen überhaupt von der Möglichkeit, sich Hilfe zu holen“, erklärt die Mitarbeiterin der Beratungsstelle Yasemin.

Streng patriarchalische Familien

Dennoch: In den vergangenen Jahren sei das Thema Zwangsehe in der Gesellschaft präsenter geworden, daraufhin hätten mehr Mädchen und Frauen eine Beratungsstelle aufgesucht, erläutert Böhmecke: „Das bedeutet daher nicht unbedingt einen tatsächlichen Anstieg der Fälle.“ Bei der Diakonie Heilbronn hat Alexandra Gutmann den Eindruck, dass sich die Fallzahlen „auf einem erschreckend hohen Niveau bewegen.“ Die Betroffenen seien meist zwischen 18 und 20 Jahre alt. Bei Yasemin suchten im Jahr 2014 68 von Zwangsverheiratung bedrohte oder betroffene Frauen und Mädchen Hilfe. „Vereinzelt melden sich auch betroffene junge Männer und Paare“, sagt die Beraterin.

Wenn Eltern ihre Tochter zur Heirat mit einem bestimmten Mann zwingen, geht es meist um die Familienehre. „Zwangsehen kommen vor allem in streng patriarchalischen Familien vor. Dort ist die Frau dem Mann untergeordnet. Es gefährdet die Familienehre, wenn das Mädchen etwa einen deutschen Freund hat“, erklärt Böhmecke. Religion spiele dabei eine untergeordnete Rolle. „Das ist kein ausschließlich islamisches Phänomen“, betont sie. Auch in vielen afrikanischen und südamerikanischen Ländern gebe es Hochzeiten gegen den Willen der Frau. Darauf weist auch Gutmann hin: „Ich halte es für bedrohlich, dass manche Menschen glauben, dass Zwangsehen nur muslimische Frauen betreffen.“

Wird eine junge Frau gegen ihren Willen verheiratet, findet die Hochzeit entweder im Ausland oder in Deutschland statt. „Viele Mädchen denken, sie könnten noch vor Ort nein sagen und fliegen deshalb mit den Eltern in deren Heimatland. Doch das ist ein Trugschluss“, erklärt Böhmecke. Haben die Frauen Deutschland erstmal verlassen, können Beratungsstellen ihnen nur noch sehr schwer helfen. Ist die Betroffene deutsche Staatsbürgerin, kann die Botschaft einschreiten. Doch dafür braucht es einen entsprechenden Verdacht. „Wenn ein Mädchen nach den Ferien nicht mehr in die Schule kommt und die Eltern den Behörden erzählen, sie habe jetzt im Ausland eine Ausbildung begonnen, dann kann das ja auch der Wahrheit entsprechen“, gibt Gutmann zu bedenken.

Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung

Um Zwangsehen vorzubeugen, braucht es Gutmann zufolge daher vor allem Zivilcourage. „Lehrer und Nachbarn müssen aufmerksam sein und die Jugendliche im Zweifel ansprechen.“ Nicht nur die Gesellschaft an sich, auch die potenziellen Opfer von Zwangsehen müssten aufgeklärt werden. Die Diakonie Heilbronn hat dazu ein Präventionsprojekt an Schulen initiiert. „Die Opfer müssen dafür sensibilisiert werden, dass sie Opfer sind und Zwangsverheiratungen eine Menschenrechtsverletzung darstellen“, erläutert Gutmann. Das sei vielen jungen Frauen nicht klar.

„Je früher das Thema angesprochen wird, desto besser“, hat Myria Böhmecke beobachtet. „Die Mädchen müssen wissen, dass es die Möglichkeit gibt, sich anonym beraten zu lassen. Sie müssen sehen, dass sie in ihrer schwierigen Situation nicht allein sind“, sagt sie. Deshalb bietet auch Terre des Femmes Projekte in Schulen an. Das Interesse daran sei hoch.

Auch in den Veranstaltungen, die die Beratungsstelle Yasemin landesweit ab der 7. Klasse durchführt, informieren die Mitarbeiterinnen über Menschen- und Kinderrechte und sprechen mit den Schülern über Themen wie Heirat, Sexualität, Gewalt, Rollenbilder und Ehre.

Alle Kontakte abbrechen

Helin vertraut sich schließlich einer Sozialarbeiterin an, die ihre Familie betreut. Diese nimmt Kontakt zu Yasemin auf. Nach vielen Gesprächen und Abwägungen fasst Helin den Entschluss, die Familie zu verlassen. Es fällt ihr unendlich schwer.

Entscheidet sich eine Betroffene für die Freiheit, muss sie ihre Familie in den meisten Fällen verlassen, weil sie in große Gefahr gerät, wenn sie sich der Heirat widersetzt und so die Familienehre beschmutzt. Auch Helin wird über das zuständige Jugendamt in eine Schutzeinrichtung vermittelt. Sie vermisst die Mutter und ihre jüngeren Geschwister sehr.

„Viele Frauen müssen zu ihrer eigenen Sicherheit weit weg ziehen und alle Kontakte abbrechen. Dieser Weg ist sehr, sehr hart,“ betont Gutmann. Das gelte umso mehr, als dass die Betroffenen in dem Bewusstsein erzogen wurden, dass die Familie über allem steht. „Ohne Familie bin ich nichts“, habe eine junge Frau einmal zu ihr gesagt, berichtet Gutmann. „Der Preis, den die Mädchen zahlen, wenn sie sich widersetzen, ist sehr hoch.“ Das machen die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle den Betroffenen klar. Dafür brauche es kultursensible Berater, die sich in die Situation der jungen Frauen richtig einfühlen können.

Zu wenig Personal

Jedoch: „Wir haben jetzt schon viel zu wenig Personal“, kritisiert Gutmann. Die Finanzierung für das Präventionsprojekt läuft in einem Jahr aus – Zukunft ungewiss. „Es braucht ausreichende Ressourcen“, fordert die Leiterin.

Die  Stuttgarter Beratungsstelle Yasemin sieht noch ein weiteres Problem – nämlich dann, wenn junge Frauen wie Helin ihre Familie in einer akuten Situation verlassen und schnell eine sichere Unterkunft benötigen: „Es gibt nur sehr wenige Notaufnahmeplätze“, sagt die Mitarbeiterin. Der Bedarf an solchen Plätzen für von Zwangsheirat betroffene oder bedrohte junge Frauen werde in Baden-Württemberg von den bestehenden Angeboten nicht abgedeckt.

Helin hat Glück gehabt. In der Schutzeinrichtung hat sie gelernt, ein selbstständiges Leben zu führen. Sie absolviert eine Ausbildung. Vor allem aber heiratet sie schließlich den Mann, den sie liebt und bekommt einen kleinen Sohn. Nach vielen Auseinandersetzungen kann sie sogar wieder Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen.

Info:

Zwangsverheiratung ist seit 2011 ein eigener Straftatbestand (StGB §237) und kann zur Anzeige gebracht werden. Kommt es zu einer Anzeige bei der Polizei, kann Zwangsverheiratung mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Allein der Versuch ist strafbar.