Roger Norrington mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart beim Musikfest 2004 Foto: H. Hoffmann

Am 22. September 2016 gibt das SWR-Symphonieorchester sein erstes Konzert im Stuttgarter Beethovensaal. Bis dahin muss die Fusion der Orchester in Freiburg und Stuttgart abgeschlossen sein. Noch sind organisatorische und atmosphärische Hürden zu nehmen.

Der Stolz bleibt

Die Buttons sind weniger geworden. Nur noch einzelne Mitglieder des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (SO) tragen die rotgelben Anstecker bei den Konzerten am Frack oder an der Bluse. „Unser SO bleibt hier“, lautete bis letzten Sommer die kämpferische Botschaft auf den kleinen runden Accessoires. Nachdem die Orchesterfusion aber endgültig beschlossen wurde, hat man neue Buttons herstellen lassen.

„Unser SO ist noch da!“ ist nun darauf zu lesen. Es klingt trotzig, stolz, aber auch ein wenig hilflos. Das Orchester in Freiburg ist unter seinem Chefdirigenten François-Xavier Roth vielleicht in der Form seines Lebens, beschwört in Mahlers sechster Sinfonie ein Untergangsszenario, das sein eigenes sein könnte, liefert beeindruckend präzise Interpretationen von Boulez-, Berio- und Lachenmann-Kompositionen. Und zeigt mit einem über ein halbes Jahr angelegten, „Patch“ genannten Laienprojekt, dass sich Hochkultur und Breitenförderung nicht ausschließen müssen, sondern sogar bedingen können.

Neue Ziele

„Wir leben zurzeit in einer Art Nirwana. Manches Mal vergisst man beim Musizieren alles und genießt den Augenblick. Und dann ist man doch wieder mit der kommenden Fusion und ihren Problemen konfrontiert“, sagt Frank-Michael Guthmann. Bis zum letzten Sommer hat der Freiburger Solocellist noch mit aller Energie gegen die Fusion gekämpft. Nun ist er in den Orchestervorstand gewählt worden und versucht, das Beste aus der Situation zu machen.

„Unser Kampf war trotzdem nicht umsonst“, sagt Guthmann, „ich habe das Gefühl, dass der SWR nun stärker auf Freiburger Belange Rücksicht nimmt als zuvor.“ Für den Schlagzeuger Jochen Schorer war es ein besonderes Gefühl, die neue, letzte Saisonbroschüre für 2015/16 in den Händen zu halten. „Sie ist die Visitenkarte unseres Profils. Ich habe große Lust auf die Konzerte. Umso größer ist meine Angst vor der Grabrede am Ende der Saison.“

Überraschung Peter Eötvös

Was kommen soll, wird vom Südwestrundfunk nach wie vor weitgehend unter Verschluss gehalten. Dennoch wurde jetzt mit Peter Eötvös der Dirigent bekannt, der das erste Konzert des neuen SWR-Symphonieorchesters am 22. September 2016 in Stuttgart leiten wird – was deshalb von einer gewissen Brisanz ist, weil sich der Ungar zuvor in zwei offenen Briefen klar gegen die Fusion ausgesprochen hatte. „Mit Eötvös haben wir für das Eröffnungskonzert einen Neue-Musik-Experten, der beide Klangkörper gut kennt. Das ist meiner Ansicht nach ein Fingerzeig in die richtige Richtung“, sagt immerhin Frank-Michael Guthmann.

Ebenfalls kein Geheimnis ist mehr, dass es zumindest in der ersten Spielzeit 2016/17 entgegen früheren Planungen keinen Chefdirigenten geben wird. Laut einem anonymisierten Spielplan werden zehn Abokonzerte der Saison je zweimal in Stuttgart (donnerstags und freitags) gespielt, und am Wochenende ist dann das Programm einmal in Freiburg zu hören.

Vier mehrtägige Residenzen in Freiburg, die Fortsetzung der Loungekonzerte „Linie 2“ und der Kammermusikreihe in Freiburg, drei Konzertreisen ins europäische Ausland und die Auftritte bei den Donaueschinger Musiktagen sowie beim Eclat-Festival in Stuttgart sind ebenfalls bereits fixiert. Für die geplante Übertragung der Stuttgarter Konzerte via Livestream werden gegenwärtig Kameras in der Liederhalle getestet.

Aufgaben gesucht

Von seiner ursprünglichen, heftig kritisierten Idee, aus dem fusionierten Orchester neben einer großen symphonischen Besetzung für eine Übergangszeit zwei Spezialensembles für Alte und Neue Musik zu bilden, ist Johannes Bultmann inzwischen abgerückt. Aber der künstlerische Gesamtleiter der SWR-Klangkörper und -Festivals hat dennoch das Problem, dass er die rund 190 Orchestermitglieder ab 2016 beschäftigen muss. Wenn die vielen gut bezahlten Musikerinnen und Musiker hauptsächlich Däumchen drehen, hätte der SWR ein massives Rechtfertigungsproblem gegenüber den Gremien und der Öffentlichkeit.

Laut geltendem Tarifvertrag dürfen die beiden Orchester nicht häufiger als zweimal im Jahr geteilt werden. Das will der SWR flexibler handhaben und lockt die Freiburger Orchestermitglieder mit Vergünstigungen wie Mietzuschuss, Fahrtkostenbeteiligung, attraktiven Vorruhestandsregelungen und zinslosen Darlehen. Die Verhandlungen darüber sind aber ins Stocken geraten.

Da der SWR auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet, werden 2016 die Mitglieder beider Klangkörper addiert. Statt zweier alternierender Konzertmeister gibt es dann vier, die statt der auf dieser Position üblichen 50 nur 25 Prozent Dienst tun. Auch bei vielen Bläserregistern wie den Trompeten, Klarinetten, Hörnern und Fagotten wird es voraussichtlich vier Solo-Stellen geben und nicht zwei wie am Ende des Fusionsprozesses.

Je nach Stimmgruppe müssen manche Musiker bei gleicher Bezahlung viel häufiger Dienst tun als andere – über Jahre und vielleicht Jahrzehnte hinweg, bis die Zielstellenzahl von 119 erreicht ist. „Das kann natürlich zu einer zusätzlichen Belastung für das fusionierte Orchester werden“, bestätigt auch Fionn Bockemühl, Vorstandsmitglied des Radiosinfonieorchesters Stuttgart (RSO).

Zwei Kulturen

Aber mit den beiden Orchestern prallen auch zwei ganz eigene Organismen aufeinander. „Aufgrund der verschiedenen Profile hat sich sicherlich eine unterschiedliche Spielkultur entwickelt. Bei uns gibt es eine flachere Hierarchie als in anderen Orchestern. Das liegt auch an der Fülle zeitgenössischer Musik, die wir spielen. Bei diesen hochkomplexen Kompositionen muss häufig jeder Einzelne auch mal Solist sein. Ich glaube, dass sich diese Tatsache auch auf den Umgang miteinander auswirkt“, sagt Anne Romeis, zweite Flötistin in Freiburg.

Fionn Bockemühl sieht der konkreten musikalischen Arbeit zuversichtlich entgegen. „Natürlich erwarte ich eine gewisse Unsicherheit auf beiden Seiten. Wir müssen uns finden – das braucht Zeit. Aber wir sind hervorragend ausgebildete Musiker, die eine ganze Palette von Klängen und Spielweisen zu bieten haben. Man wird sehr schnell eine gute Qualität erwarten können. Bei hervorragenden Festivalorchestern wie zum Beispiel in Bayreuth sind die Mitglieder ja auch mehr oder weniger zusammengewürfelt“, sagt der RSO-Orchestervorstand.

Dabei ist das künftige Profil des Orchesters noch nicht zu erkennen. Avantgarde oder Mainstream – oder von allem ein bisschen? Frank-Michael Guthmann erwartet eine Phase des Übergangs. Dass das fusionierte SWR-Symphonieorchester schon in ein bis zwei Jahren an der Spitze ankommen wird, wie Johannes Bultmann in einem Interview Anfang 2013 selbstbewusst verkündete, scheint indes unrealistisch.