Titel geben Büchern Namen und Gesicht; heute sind sie auch ein Tool der Aufmerksamkeitsökonomie. Immer ausgefallener und marktschreierischer kommen sie daher – im günstigsten Fall aber auch origineller.
„Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit“, doziert Lessing nonchalant in der „Hamburgischen Dramaturgie“. Der winzige Zusatz: aber eine ungeheuer wichtige! ist heute freilich angemessener denn je. Als Oberton schwingt er unausgesprochen schon bei dem Aufklärer mit.
Dank des Titels ist ein Werk überhaupt erst greifbar, identifizierbar; in gewisser Weise ist die Überschrift sein Name. Nicht von ungefähr ist bei Büchern oder auch Rock- und Popsongs der Begriff Titel ein Synonym für die Sache selbst.
Aufmerksamkeit und Aufsehen
In einer Zeit, in der Frühling für Frühling und Herbst für Herbst wahre Bücherfluten den Markt überschwemmen, kommt dem Titel erhöhte Bedeutung zu – als Marketinginstrument. Mit dem Titel soll ein Buch Aufmerksamkeit, wenn möglich Aufsehen erregen, und sich von der Masse der Publikationen abheben.
Ein guter, weil origineller und spektakulärer Titel kann im Hinblick auf die Verkaufszahlen Gold wert sein. Man liegt wohl nicht falsch, wenn man Richard David Prechts Aufstieg zum Bestseller-Autor und Promi zu einem guten Teil auf einen Buchtitel zurückführt: Der Band „Wer bin ich - und wenn ja, wie viele“ machte den Schriftsteller schlagartig bekannt. Besser kann eine Überschrift ihre zeitgemäße Funktion – eben die, aufzufallen – kaum erfüllen. Ob im konkreten Fall der Geistesblitz dem Ingenium des Autors entsprang oder sich der geballten Marktexpertise des Verlags verdankt, ist nicht überliefert.
Geniestreich aus der Marketingabteilung
War in Titelfragen barocke Opulenz bis vor nicht langer Zeit der Dernier Cri (Frank Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ wäre ein Beispiel; 2015 wurde er für das Buch mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet), gehen Buchtitel heute gewitzter und smarter zu Werke. Anstelle langatmiger Sentenzen wirft sich ein up to dater Titel dem potenziellen Leser mit Spontaneität und Direktheit an den Hals – womöglich gewürzt mit einer Prise Enthusiasmus. Für ihren Roman „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“ bekam Martina Hefter im Oktober den Deutschen Buchpreis.
Christoph Ransmayrs neues Buch segelt unter der lässigen Überschrift „Egal wohin, Baby“. Dass der passionierte Reisende selbst es war, der auf diesen Titel verfiel, darf bezweifelt werden. Eher möchte man an einen Geniestreich aus der Marketingabteilung denken. Für ihn musste der Österreicher wohl erst einmal breitgeschlagen werden.
Kalkül über Informationsgehalt
Im Buch selbst ist der Titel ein Zitat: Den lockeren Spruch las Ransmayr als Graffito auf einer Mauer – und deutete ihn plausibel als Liebesbekenntnis eines Sprayers. Das zu vermutende Maß inneren Widerstrebens des Schriftstellers gegen den modischen Trend dürfte deckungsgleich sein mit dessen Grad inhärenten ökonomischen Kalküls. Bei Buchtiteln überwiegt solches Kalkül meist weit den bloßen Informationsgehalt.
Waren Buchtitel in vergangenen Zeiten eine Domäne des Verlegers, wurden sie im 18. Jahrhundert – in einer Zeit fortschreitender Individualisierung der Menschen - nicht nur schlanker, sondern gingen zunehmend in die Verantwortung des Autors über. Schwer vorstellbar, dass Cotta im Falle der „Leiden des jungen Werthers“ seinem Autor in den Arm gefallen wäre - oder Samuel Fischer mit Blick auf den „Zauberberg“ Thomas Mann einen anderen Titel nahegelegt haben könnte. Zumal dieser Titel das Musterbeispiel einer geglückten Buchüberschrift darstellt.
„Udo Fröhliche!“
Was Titel heute vor allem kennzeichnet, sind rhetorische Figuren – wie Wortspiel, Anspielung, Paraphrase oder Paradox. Die Königsdisziplin im Titeldesign ist aber, durchaus vergleichbar mit Werbestrategien in anderen als der Buchbranche, das Wortspiel. Auf dem Buchmarkt führen Jan Weilers Adoleszenz-Geschichten „Das Pubertier“ von 2014 hier uneinholbar die Rangliste der originellsten Titelideen an; den ein Jahr zuvor entstandenen Dokumentarfilm „Wembley – Football is coming hoam“ über den FC Bayern München verweisen sie auf die Plätze.
Wortspiele können so erstaunliche Blüten treiben wie „Udo Fröhliche!“ (Benjamin von Stuckrad-Barres 2016 erschienenes Lindenberg-Lexikon). Nicht von schlechten Eltern sind auch Überschriften wie „Heartcore“ oder „Herz Vers Sagen“ auf den Covers von Gedichtbänden Albert Ostermeiers.
Der Star unter den Titeln ist freilich der Name – nicht selten ohne jedes Beiwerk. Die Beispiele dafür sind Legion. Bereits antike Dichtungen waren oftmals nach Figuren (oder Orten) betitelt: die Odyssee wie die Ilias oder die Äneis.
In der Neuzeit führten Shakespeares Dramen, von den Komödien mal abgesehen, oder Cervantes‘ Roman über den Ritter von der traurigen Gestalt die Namen der Protagonisten im Titel. Im 18. und 19. Jahrhundert, als Romanfiguren im Zuge fortschreitender Subjektivierung aus den kollektiven Verhältnissen der Gesellschaft ihrer Zeit heraus- und als Individuen im vollen Wortsinn vors innere Auge des Lesers traten, wurden sie generell titelwürdig: von Emilia Galotti, Werther und Wilhelm Meister über Madame Bovary und Anna Karenina bis hin zu den Brüdern Karamasow und Effi Briest. Ja, bis zu Lotte in Weimar und Lolita – und weiter bis zu Louis Malles Zazie und darüber hinaus.
In der Kürze liegt die Würze
In der Regel gilt auch bei Titeln: In der Kürze liegt die Würze. Einer Überschrift verleiht sie Bündigkeit und Prägnanz. Auch möchte der Leser im Normalfall nicht zu früh zu viel erfahren. Wer schon auf dem Buchdeckel die Katze aus dem Sack lässt, muss sich bei den Verkaufszahlen womöglich mit weniger Mäusen begnügen.
Im Barock bestanden Titel häufig aus ebenso ausführlichen wie – von heute aus gesehen - ermüdenden Inhaltsangaben. Doch selbst wenn der Titel nicht mehr ist als eine Art nüchterne Kurzinfo über den Inhalt, kann er seinen Zweck vollkommen erfüllen: originell sein, neugierig machen und darüber hinaus etwas vom Geist des Buchs und seines Autors verraten.
„Die Welt als Wille und Vorstellung“ enthält, verdichtet auf einen Halbsatz, Schopenhauers Philosophie in nuce. Gleichzeitig mit der reinen, frischen Luft seines Denkens weht uns im Titel das Versprechen an, bei Erwerb beider Bände die Lösung aller Welträtsel in den Händen zu halten und gleich nach Hause tragen zu können.