Ein wandelndes Denkmal war er, groß geworden in der linken Szene. Der Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich, eine literarische Institution der Stadt, ist am Montag im Alter von 94 Jahren gestorben.
Stuttgart - Von wegen niedlich! Ein mürrischer Griesgram sei er gewesen, sagen die, die ihn kannten – und es kannten ihn viele! In seinem legendären Buchladen an der Schmalen Straße in der Innenstadt, in dem man mitunter die Machete brauchte, um im Dschungel des hochgeschossenen Bücherwuchses durchzukommen, habe Wendelin Niedlich mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter Kunden verscheucht, die einen Bestseller kaufen wollten, der ihm nicht gefiel – oder die, noch schlimmer, nach einem Stadtplan von Stuttgart fragten.
Von 1960 bis 1998 hat Wendelin Niedlich eine bis heute einzigartige Buchhandlung geführt. Sein Lesestoff-Biotop hätte man im Stadtpalais nachbauen müssen! Einst hat Erich Fried bei ihm Gedichte vor zehn Gästen vorgelesen. Das legendäre Schild „Wer hier klaut, hat nichts verstanden“ müsste im Stuttgart-Museum einen Ehrenplatz erhalten. Noch heute erzählt man sich, dass der spätere Außenminister Joschka Fischer zu den eifrigsten Buchdieben gehörte. „Wendelin war eine Lichtfigur in der provinziellen konservativen Finsternis von Stuttgart“, sagt der Autor Joe Bauer, der ihn gut kannte, am Montagabend unserer Redaktion.
1960 hat Niedlich seine Buchhandlung eröffnet
Unbezahlte Rechnungen soll Niedlich in einem Wäschekorb aufbewahrt und alljährlich Verlosungen veranstaltet haben. Gläubiger, die gezogen wurden, kamen in einen zweiten Wäschekorb. 1960 hatte der damals 33-Jährige den Laden des Antiquars Fritz Egger übernommen. In den 1970ern zog er fünf Häuser weiter, in das Eckhaus an der Schmalen Straße 9, das zum „Manhattan der Bücher“ wurde, wie der Dichter Otto Marchi schrieb: „Wer einmal in seinen Regalen steht, der bleibt da stehen, manchmal jahrzehntelang. Es gibt eine Achternbusch-Pyramide,eine Brecht-Chaussee, ein Enzensberger-Hochhaus, einen Joyce-Turm und ein Robert-Walser-Gebirge, das alles überragt.“ Um diesen einzigartigen Buchladen zu retten, versteigerten einst Manfred Rommel und Lothar Späth Kunstwerke. 1998 war nichts mehr zu retten. Das Geschäft, das Kultur- und Literaturgeschichte geschrieben hat, musste für immer schließen
Lebte Marcel Proust gar noch?
Autor Joe Bauer erinnert sich, wie Heinz Weiß, der Wirt des Cafés Weiß, in dem Niedlich oft saß, 2001 von der Gema eine Rechnung über 171 Mark und 67 Pfennig in seinem Briefkasten fand. Weiß, der seine Musikbox mit Edith Piaf und Rock’n’Roll bespielte, nahm die Rechnung nicht persönlich. Das Schreiben war an einen „Lizenznehmer“ mit französischem Namen gerichtet – an Marcel Proust. Weiß-Stammgast Niedlich freute sich wie ein kleines Kind. Es gab nur eine Erklärung für den Brief, meinte er: Sein verehrter, 1922 gestorbene Proust war auferstanden! Vermutlich hatte er lange im Keller des Café geruht und neue Bände geschrieben. Lange vorm Eintreffen des Gema-Schreibens hatte der Buchhändler ein Stück Pappe zur Werbung für seine literarischen Reihe an der Tür der Bar befestigt. Aufschrift: „Marcel Proust, Geißstraße 16“. Dies musste der Kontrolleur von der Gema gesehen und missverstanden haben. Damals hatten Schauspielerinnen und Schauspieler einmal im Monat im Weiß beim Hans-im-Glück-Brunnen aus dem Proust-Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen.
Wendelin Niedlich und seine Frauen
Dokumentarfilmer Václav Reischl erinnerte beim 90. Geburtstag von Wendelin Niedlich im Sommer 2017 in der Stadtbibliothek, was dem Buchhändler Halt im Leben gab: „Die Frauen.“ Niedlich habe allerdings immer andere Frauen gehabt und wohl nie die Richtige gefunden, vermutete Reischl. Niedlich schüttelte den Kopf und erwiderte: „Es war immer die Richtige zur jeweiligen Zeit.“ Im Herzen der Stadtbibliothek verriet er damals, was ihm am Leben hält: „Ich lese täglich.“ E-Books lese er nie. Er lese die 4000 Seiten von Marcel Proust. Und wenn er damit fertig sei, fange er gleich wieder von vorne an.